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Als der Blackout kam, half nur noch der Griffel

Es soll ja vorkommen, daß Leser ihre Zeitung manchmal nicht ganz plausibel finden. Daß sie aber Probleme haben, sie zu entziffern, dürfte wohl einmalig sein. So geschah es diese Woche in Belgien.

Von HELMUT HETZEL

Plötzlich knallt es. Der Strom fällt aus. Die Fernschreiber stehen still. Die Bildschirme der Computer verdunkeln sich. Dem Redakteur wird es ganz mulmig. Automatisch schießt es ihm durch den Kopf "Hoffentlich ist mein Text gespeichert."

"Systemausfall im Zentralcomputer" heißt das unter Fachleuten. In der Regel sind solche Störungen im Textverarbeitungs-System bei Zeitungen schnell behoben. Daß das Erscheinen der Zeitung dadurch wirklich gefährdet wird, ist eher unwahrscheinlich.

"Genau das dachten wir auch", sagt Doreen Espeel, Redakteurin der flämischen Tageszeitung "De Morgen", die mit ihren Kollegen einen solchen Systemausfall im Zentralcomputer auf wohl noch nie dagewesene Weise löste. l,Der Strom blieb diesmal stundenlang weg. Die Zeit verstrich immer schneller. Die Techniker konnten den Fehler im Computersystem einfach nicht finden. Unsere Redaktions-Schlußzeiten rückten immer näher. Und als es 17.00 Uhr geschlagen hatte, da war uns klar: Jetzt muß irgend etwas geschehen."

Nur, was? Das war jetzt- die große Frage. Es stellte sich näml - ich schnell heraus, daß für 34 Redakteure nur noch zwei alte Schreibmaschinen irgendwo verstaubt in einer Ecke der Redaktion herumstanden, und auch der Versuch, die Zeitung woanders drucken zu lassen, war so gut wie gescheitert. "Da wäre wohl nicht eina mal mehr eine vierseitige Notausgabe zustande gekommen."

Viel Zeit zum Diskutieren blieb nun nicht mehr. Entschlossen folgte die Redaktion dem von Chefredakteur. Paul Goossens ausgegebenen Motto: "Eine Tageszeitung muß jeden Tag erscheinen." Nur, wie? In dieser brenzligen Situation bestätigte sich die alte Binsenweisheit "Not macht erfinderisch".

"Dem Kollegen Computer ein Schüippchen schlagen(4

Da man nicht genügend Schreibmaschinen hatte, eine Notausgabe zeitlich kaum mehr zu schaffen war, schoß den Redakteuren ein ganz ungewöhnlicher Gedanke durch den Kopf-. Warum sollte man die Zeitung nicht einmal mit der Hand schreiben?

Gedacht, getan. Damen und Herren, deren HaiAdschrift die einstigen Schönschreib-Ubungen aus der Grundschule noch ansatzweise erkennen ließ, mußten nun an die Front. Dann ging es los. "Dem Kollegen Computer wollte man mal ein Schnippchen schlagen, es ihm einmal so richtig zeigen." So lautete die Parole der Redaktion. "Unser Ehrgeiz war es, eine ganz normale Zeitung zu machen - nur eben handgeschrieben", erläutert Doreen Espeel. Und schließlieh wollte man sich wegen dieser kleinen technischen Störung am nächsten Tag bei Nichterscheinung des "Morgen" nicht auch noch den freigewordenen Titel einer flämischen Satire-Zeitschrift anhängen lassen. Das Satire-Blatt, das jüngst Pleite machte, hieß "Der Schweiger"

Die Leser reagierten überwiegend positiv

Kugelschreiber und Filzstifte glühten. Und am nächsten Morgen lag eine einzigartige Zeitungsnurnmer an den Kiosken in Flandern. Aufinacher, fein säuberlich in Versalien und von Hand gestylt: "Wer schreibt, der bleibt." Unterzeile: "Graphologie: Die große Handschrift - pure Absicht oder greifen Sie doch lieber zur Bril-

le?" Im Blatt dann ein Artikel zu selbigem Thema. Recherchiert war er von den Kolleginnen und Kollegen, deren Hände nur Hieroglyphen aufs Papier bringen konnten. Sie mußten ja auch irgendwie beschäftigt werden und durften mit diesem selbstkritisehen Beitrag das Schriftbild der tatsächlich zur Feder greifenden Schönschreiber bis ins I-Tüpfelchen analysieren.

Ergebnis des graphologischen Gutachtens: "Die Handschrift der Kolleginnen und Kollegen läßt deutlich darauf schließen, daß es sich bei diesen Personen um Idealisten mit einem ausgesprochenen Interesse für alles Geistige handelt." Aber auch der Umkehrschluß der graphologischen Dialektik wurde dem Leser nicht vorenthalten: "Diesen Idealismus kann man natürlich auch als einen Mangel an Realitätssinn interpretieren."

Einen Tag nach Erscheinen der handgeschriebenen Nummer des "Morgen" (die übrigens in wenigen Stunden ausverkauft war) bringt die Post die schriftlichen Reaktionen der Leser gleich stapelweise in die Redaktion, klingelt das Telefon beinahe ununterbrochen. "Es hagelt Glückwünsche", sagt eine der Sekretärinnen. "Aber mit Kritik wird auch rächt gespart. Die meisten Unzufriedenen beklagen sich darüber, daß sie doch Xiieht alles entziffern konnten, was in der Zeitung stapd", meint Dolreen Espeel, die selbst mit Hand an den Griffel legte und sich daher auch persönlich von dieser Kritik angesprochen fühlt. "Insgesamt aber sind die Reaktionen überwiegend positiv. Es melden sich auch immer mehr Sammler, die sich eine solche einzigartige Zeitungsnummer nicht entgehen lassen wollen."

Dennoch ist sich die Redaktion, die nebenbei auch noch gegen Zahlungsunfähigkeit und drohende Einstellung des Blattes ankämpfen muß, bei allem journalistischem Idealismus und der vom Kollegen Computer entfesselten Kreativität darüber im klaren. "So etwas können wir uns kein zweites Mal leisten."

 

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