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Joseph Weizenbaum:

"Die Technik in die Schranken weisen"

Der Weg ist das Ziel! / Ein Interview im deutschen Sprachraum wurde Joseph Weizenbaum (geboren 1923 in Berlin, 1936 ernigriert in die"..." USA, Professor für Informatik am Massach Usetts Institute for Technology, MI.T.) bekannt durch:',: seine Bücher 'Wie Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft" (Frankfurt 1977) und "Kurs auf den Eisberg- (Zürich 1984). Mündlich weist Weizenbaum auf die Grenzen der Technologie hin und warnt vor der Gefahr, die sich aus einer ungebremsten Entwicklung von Wissenschaft und Technik ergeben kann. - Im nachfolgenden Gespräch geht es um das historische, kulturelle und soziale Umfeld einer Zivilisationsentwicklung, die in der elektronischen Datenverarbeitung einen Kulminationspunkt erreicht. Das Gespräch führte Markus Schmidt; es fand im Haus der Familie Domzalski (Dorothea und Leo Domzalski sowie ihre Söhne Adrian und Oliver Thomas) in Berlin statt, die sich ebenfalls an dem Gespräch beteiligten.

Lange, bevor Weizenbaum mit seinen Büchern ein breites Publikum erreichte, hatte er bereits einen Namen in der Fachwelt: Mit dem 1965 geschriebenen Computerprogramm "Eliza" erregte er einen Sturm der Entrüstung und des Erstau
nens. Mit "Eliza" wollte Weizenbaum beweisen, daß der Computer eines nicht kann: den Menschen als Gesprächspartner des Menschen ersetzen, "Eliza" ist ein sogenanntes "dialogisches" Programm: Dem am Terminal wird vorgetäuscht, der Computer verstehe seine Aussagen oder Fragen, ja als könne die Maschine durch ihre pseudoverständnisvollen Rückfragen dem menschlichen Gegenüber in seinen seelischen Problemen helfen.
Das Experiment "Eliza" schlug fehl. Allerdings nicht etwa, weil das Programm nicht funktioniert hätte - im Gegenteil. Viele Menschen glaubten an die autonome "Macht der Computer" und waren bereit, der Maschine ihre seelischen Probleme zu unterbreiten. Der Computer ist geduldig. Er steht nicht auf und geht weg, vor ihm kann man sich nicht blamieren. Und eine Reihe von Joseph Weizenbaums Fachkollegen meinten begeistert, endlich den elektronischen Psychotherapeuten gefunden zu haben, der auch mehrere "Patienten- gleichzeitig - behandeln" könne. Es war vor allem diese Erfahrung - wie leicht Menschen bereit sind, sich der Autorität der Technik zu unterwerfen -, die Joseph Weizenbaum zum "Rufer in der Wüste" werden ließ.
Sich selbst bezeichnet Weizenbaum als Pessimisten, was die Entwicklung der menschlichen Zivilisation anbelangt: -Kurs auf den Eisberg". Gerade aus dieser negativen Zukunftserwartung aber entwickelt er das Recht, ein Hoffender zu seinNur wer eine positive Entwicklung nicht erwartet, ist imstande, sie zu erhoffen. In diesem Sinne wendet sich Joseph Weizenbaum an seine Zeitgenossen mit der Aufforderung, das "Wunder" zu ermöglichen, welches darin besteht, das Ruder jener "Titanic" herumzureißen, auf der er uns mit voller Kraft dem Untergang entgegenfahren sieht. Ein "Wunder", das nicht durch die Entscheidung politischer Würdenträger, sondern durch die Verantwortung des Einzelnen bewirkt werden kann. Wenn jeder von uns die Bereitschaft entwickelt, derjenige zu sein, der das Ruder herumreißen könnte, dann haben wir eine Chance.
Markus Schmidt.- Die Entwicklung der technologischen Zivilisation in unserem Jahrhundert ist in entscheidendem Maße von den Vereinigten Staaten geprägt worden. Hat das vielleicht seinen Grund darin, daß einerseits in der amerikanischen Geistesgeschichte der europäische kulturelle Ursprung vergessen wurde, andererseits aber die ursprünglich amerikanischen Zivilisationsformen Amerikas, die der Indianer, nicht nur nicht aufgenommen, sondern sogar massivster Gewalt verdrängt wurden?
Auf einer leider nur kurzen Reise durch die USA hatte ich das starke Erlebnis, daß sich zwischen Kultur und Natur in Amerika eine gewaltige Kluft befindet. Ein anschauliches Beispiel dafür ist San Francisco: Ohne jede Rücksicht auf natürlich gewordene Landschaftsforrnen sind hier die Straßenzüge einfach nach einem Rasterplan quer über die hügelige Landschaft gebaut worden.
Joseph Weizenbaum: Ich lebe seit 51 Jahren in den Staaten und kann nur sagen. Ich weiß immer noch zu wenig über Amerika, um zu einer solchen Aussage zu kommen. Ich bin mit solchen Vereinfachungen sehr vorsichtig. Um auf Ihr Beispiel einzugehen: In Boston sind die Straßen einfach die ausgebauten Kuhpfade, auf denen ehemals die Cowboys ihre Herden getrieben haben. Um sich in Boston zurechtzufinden, muß man sich auskennen, da kommt man mit Rastern oder Mathematik nicht weiter.
Im amerikanischen Innenleben ist von den Indianern tatsächlich sehr wenig übriggeblieben. einige völlig veräußerlichte Feste oder Riten - Tatsache ist aber, daß die Indianer ermordet wurden, und zwar nicht nur im Äußeren. Damit hängt vielleicht zusammen, daß es in Amerika so gut wie kein Geschichtsbewußtsein gibt. Das wird durch die Medien noch unterstützt: Völlig zusammenhanglos werden die Tagesereignisse nebeneinandergestellt - ein Sportereignis neben ein Eisenbahnunglück in Kalkutta. Wenn zum Beispiel Richard Nixon in den Medien erwähnt wird, kommt mit Sicherheit der Zusatz: "former president of United States", weil man einfach nicht davon ausgehen kann, daß das jemand weiß.
Die indianische Kultur ist im allgemeinen nur noch Entertainment für die amerikanische Bevölkerung. So muß sich z.B. jeder amerikanische Präsident einmal mit einem indianischen Federschmuck fotografieren lassen. Das hat aber überhaupt keine Bedeutung. Eine bewußte Identifizierung findet da nicht statt. Oberhaupt ist das Bewußtsein für die indianische Kultur sehr dünn. Man weiß von ihr, abstrakt, so abstrakt, wie man auch die Entfernung zum Mond kennt. Das hat mit dem Innenleben Amerikas nichts zu tun.
Selfmade-Männer
Markus Schmidt: Was ist dann aber das Innenleben Amerikas?
Joseph Weizenbaum.- Das Wichtigste am Innenleben Amerikas ist, daß es sehr vielgestaltig ist, so wie Amerika ja überhaupt sehr unterschiedliche Seiten hat. Es gibt keinen Ort in den Staaten, von dem man sagen könnte: Das ist das typische Amerika. Sie sind alle völlig verschieden. Ich lebe in Cambridge, Massachusetts und muß täglich erleben, daß ich einfach nicht weiß, was Amerika ist.
Von einem Gesichtspunkt aus gibt es allerdings eine "Homogenisierung" Amerikas: in der Werbung und in den Medien. So sind beispielsweise die Hotelzimmer der "Holiday Inn"-Hotels überall gleich, so daß man sich überall "zuhause" fühlen soll. Man kann dann nicht mehr unterscheiden, ob man in Chicago ist oder in Courage. Und auch das Fernsehen bringt überall die gleichen Nachrichten. Das ist eine Form der "Vereinigung" Amerikas, die völlig trivial ist, die aber doch sehr tiefe Konsequenzen hat.
Dieses Amerika hat nichts mehr mit den Indianermythen. zu tun. Es hat auch nichts zu tun mit den Pionieren, die nach Amerika einwanderten. Im 18., 19. Jahrhundert gab es nach Westen hin gewissermaßen eine offene Grenze. Man konnte jedem Schicksal entlaufen und neu anfangen. Daher stammt die Idee des "selfmademan", eine der Grundsäulen der amerikanischen Kultur.
An dieser Stelle kann man übrigens einen gewaltigen Unterschied beispielweise zur japanischen Kultur feststellen. Die Sozialisierung eines neugeborenen Kindes geht in Amerika von der Prämisse der völligen Hilflosigkeit des Kindes und seiner totalen Abhängigkeit von den Eltern aus. Das Erziehungsziel ist deshalb, das Kind so schnell wie möglich unabhängig werden zu lassen. In Japan ist es genau umgekehrt: Uher wird der Säugling gerade in seiner völligen Unabhängigkeit von allen sozialen und gesellschaftlichen Bindungen gesehen, und die Erziehung soll nun bewirken, daß das Kind in die Gesellschaft eingebunden wird. Natürlich ist das in Amerika - und vermutlich auch in Japan - vollkommen unbewußt: es ist eine tief internalisierte Aufgabe der Eltern.
Dorothea Domzalski: Diese Erziehung zum "selfmademan" - das ist doch in gewisser Weise auch eine krasse Aufforderung zum Egoismus. Hängen
damit nicht auch die enormen sozialen Diskrepanzen in Amerika zusammen?
Joseph Weizenbaum: Es freut mich sehr, daß Du das ansprichst. Du hast völlig recht. Die Verschiedenheit Amerikas äußert sich natürlich nicht nur in der Unterschiedlichkeit der Straßenbilder, sondern auch in den sozialen Bereichen.
Adrian Domzalski. - Was mich allerdings wundert. - Diese verschiedenen sozialen Schichten lassen sich durch dasselbe Fernsehen befriedigen.
Joseph Weizenbaum: Darauf habe ich auch keine Antwort. Ich kann da auch nur staunen. Aber es ist eine Tatsache: Gerade die Armen haben den Fernseher oft als einziges "kulturelles" Angebot. Einen alten Fernseher bekommt man schon für zehn Dollar. In den wohlhabenderen Schichten übernimmt der Fernseher oft die Funktion des Babysitters. Und für die älteren Kinder gibt es ja jetzt die Videospiele. Klaus Häfner führt sie immer als einen Fortschritt gegenüber dein Fernsehen an, weil die Kinder hier nicht nur passiv vor dem Kasten sitzen, sondern selbst aktiv würden. Ich kann darauf nur antworten: Bisher haben die Kinder im Fernsehen ein U-Boot gesehen, das torpediert wird, in dem Hunderte von Menschen ums Leben kommen. Heute können sie nun selbst diejenigen sein, die das U-Boot abschießen.
Markus Schmidt.- Was Sie damit andeuten, ist doch, daß sich der Computer aus Vorhergehendem entwickelt hat. In Ihren Büchern haben Sie ja oft darauf hingewiesen, daß der Computer ein Kind des Zweiten Weltkrieges ist . . .
Joseph Weizenbaum.- . . . und des Kalten Krieges!
Markus Schmidt.- Wo ist nun aber der eigentliche Ursprung des Computers zu suchen?
Joseph Weizenbaum: Mir scheint an diesem Gespräch symptomatisch zu sein, wie schnell wir die Indianer vergessen haben, Das ist typisch amerikanisch. Man spricht über die Indianer, weil es sie ja nun einmal gegeben hat - und kehrt zur Tagesordnung zurück und zum Computer. Und noch etwas soll nicht vergessen werden: Der eben angesprochene Freiheitsdrang, der den amerikanischen Pionieren nachgesagt wird, ist eine Folge der Unterdrückungen, die die Menschen in Europa erleben mußten. Man darf das nicht idealisieren oder romantisieren.
Leo DoMzalski.' Wenige gingen nach Amerika, um eine bessere Welt zu schaffen, die meisten mit der Hoffnung, für sich ein besseres Leben zu haben.
Joseph Weizenbaum: Ein Beispiel sind. die Iren: Damals herrschte eine Hungersnot in Irland. Die hatten einfach Hunger!
Wenn man das mit unserer heutigen Situation vergleicht, muß man feststellen, daß die Situation Westberlins geradezu symbolisch ist für unsere Situation überhaupt: Unsere Gesellschaft ist umringt von einer Mauer. Man kann heute nicht mehr "weggehen", auch von Amerika nicht. Es gibt das "andere " Land nicht mehr.
Chaos und Abstraktion
Markus Schmidt: Wenn man das jetzt noch einmal für die amerikanische Gesellschaft betrachtet: Ist es nicht so, daß diese unsichtbare Mauer, von der Sie sprechen, in den USA auch damit zusammenhängt, daß die Zivilisation dort entstanden ist einerseits durch den Ausbruch aus den Traditionen der Alten Welt und andererseits durch die Verdrängung dpr ursprünglichen indianischen Kultur, daß die amerikanische Kultur also gewissermaßen wurzellos schwebt?
Joseph Weizenbaum: Von dieser Verdrängung herrscht aber überhaupt kein Bewußtsein. Die Antwort, die man bekommen würde. Es war doch nichts da! Als ich 1936 nach Amerika kam kannte ich keine Unterdrückung der Schwarzen weil ich die Schwarzen überhaupt nicht wahrnahm. Sie waren für mich einfach nicht da. Das ist ein Trick, den der Mensch nur zu gut beherrscht: Zu verdrängen, was er nicht sehen will.
Die Pioniere, die 1850 in den Westen zogen hatten diese Fähigkeit, die Indianer - außer in den Visieren ihrer Gewehre - zu ignorieren, in ungeheuer starkem Maße ausgebildet. Und diese Menschen fielen keineswegs vom Himmel: Sie kamen eben aus Europa.
Leo Domzalski.- Damit ist ein bestimmtes Verhältnis zur Natur gekennzeichnet: Die Indianer wurden als Naturvolk angesehen und die Natur, die Wildnis, mußte besiegt werden. Die Folge ist, daß die Indianer vertrieben und schlichtweg ausgerottet wurden.
Markus Schmidt: Ich sehe hier doch eine ziemlich direkte Linie zur Entstehung des Computers. Dieser Drang danach, die "Wildnis", die man als Chaos empfand, durch die Ratio zu ordnen und zu beherrschen, den natürlichen Strukturen das Merkmal logischer Abstraktion aufzuprägen - bildet diese innere Haltung nicht den Boden für solche Entwicklungen, die schließlich auch den Computer hervorbringen?
Adrian Domzalski: Könnte man sagen: Wir - als Europäer - haben das, was Amerika geworden ist, gewissermaßen aus uns herausgesetzt und verdrängt?
Joseph Weizenbaum: Ich glaube, es ist eigentlich eine viel allgemeinere Frage, um die es hier geht. Es ist die Frage, wo überhaupt Erfindungen herkommen. Es geschieht viel zu schnell, daß man der Wissenschaft eine Autonomie zuspricht, die eigentlich gar nicht existiert. Insbesondere während der Kriegszeit gab es durchaus Notwendigkeiten. Trajektoren von Geschoßbahnen mußten berechnet werden, es stellten sich die gewaltigen Aufgaben der Logistik, Nachschubversorgung, Rüstungsproduktion, Treibstoffversorgung mußten organisiert werden. Da gab es wirtschaftliche Notwendigkeiten, und es gab eine Reihe von technischen Möglichkeiten: Daraus entstand der Computer. Von einer Autonomie der Wissenschaft zu sprechen, wäre hier Unsinn. Und es war auch durchaus kein Zufall, daß der Computer in den USA, Großbritannien und Deutschland gleichzeitig entwickelt wurde. Es war eben nur Konrad Zuses Pech, daß die Ilffler-Regierung nicht erkannte, was er da in den Händen hatte.
Ein anderes Beispiel ist Robert McNamara, der Verteidigungs- (also eigentlich Kriegs-) minister
unter John F. Kennedy und Johnson - also während des Vietnamkrieges. Er war ein Kind dieser systematischen Kriegsführung. Schon im Zweiten Weltkrieg war er einer der allerersten, die die Logistik der Luftwaffe mit den, damals noch sehr anfänglichen, Computermethoden bearbeitet haben,
Von einer autonomen oder freien Erfindung kann hier nicht die Rede sein: Es gab einige sehr spezielle Aufgaben, die gelöst werden mußten. So entstanden die Vorläufer des Computers.
Verweigerung
Markus Schmidt.- In Ihren -Büchern, insbesondere in "Kurs auf den Eisberg- kommen Sie bei der Frage nach der Lösung der gegenwärtigen Umwelt- und Technologiekrisen immer wieder auf die Verweigerung zu sprechen. Mir ist nun die Frage: Aus welcher Motivation kommt man zu einer vernünftigen Verweigerung, die die Technik
in ihre Schranken weist: Bis hierher und nicht weiter? Und aus welcher Motivation kann vielleicht auch wieder eingegliedert werden, was jahrhundertelang verdrängt wurde? Und: Genügt es zu verweigern oder braucht man für die Bildung einer positiven Zukunftsentwicklung noch etwas anderes?
Joseph Weizenbaum: Um verantwortlich handeln zu können, muß man Zeit haben, sich sein zukünftiges Verhalten zu überlegen. Wenn diese Zeit nicht gewährt wird, dann bleibt einem oft nichts anderes übrig, als sich zu verweigern. Die Entwicklungen gehen zu schnell: Man hat nicht die Zeit, sich gründlich genug zu überlegen. Für diesen Zweck sollen die Eisenbahn oder der Kühlschrank oder der Computer nicht angewendet werden. Man kommt schließlich an einen Punkt, wo inan nur noch sagen kann. "Aufhören! Stop. 1 want to get off! Ich brauche Zeit!"
Die Versuchung, ohne genügende Zeit auszukommen, also nur noch Sachzwängen zu folgen, ist gewaltig. Die Verweigerung sehe ich als eine Art Notruf. Nicht, daß ich wünsche grundsätzlich verweigern wollte. Ich kann aber mein eigenes Verhalten nicht verantworten, ohne nachzudenken ' Ich muß aufhören, um nachdenken zu können. Eine Stunde, einen Tag oder ein Jahr. Und inzwischen geht die Welt weiter.
Manchmal scheint es mir fast, als ob es gar kein Aufhören geben könnte.
Dorothea Domzalski.- Ich denke, es kann immer nur ein individuelles Aufhören sein. Und das ist ja dann auch durchaus etwas Aktives. Damit verbunden kann ja der Wunsch sein, als Mensch ein sozialeres Leben zu führen, wenn man sieht, in welche Isolation der Fernseher oder der Computer tuten. Insofern ist es doch von Nutzen, auf diese Drogen zu verzichten.
Joseph WeLzenbaum: Mir fällt immer wieder auf, daß gerade die Kinder heute schon viel zu oft vor Entscheidungen gestellt werden, ohne wirklich die Zeit zu haben, sich darauf vorzubereiten, sich zu überlegen, was sie eigentlich wollen. Aus dieser Not ist der einzige Ausweg oft die Verweigerung - einfach aus dem Zeitdruck heraus, in dem wir leben. Die Zeit fehlt in unserer Welt, sich vorzubereiten, gerade für die Heranwachsenden. Dabei haben wir doch nichts anderes als Zeit. Wir leben in der Zeit. Aber dann kommen die sogenannten Sachzwänge. Was da zwingt, sind viel weniger die Sachen als man selber, indem man sich gezwungen fühlt.
Und dann kommt die riesige Versuchung, wenn man ein Talent hat, zum Beispiel für Mathematik, dieser Begabung einfach nachzugehen, ohne die Zeit zu lieben, darüber nachzudenken: Was macht denn die Mathematik in unserer Welt eigentlich?
Markus Schmidt: Bei der Frage nach der Verweigerung muß ich andre Situation der ökologischen Bewegung in der Bundesrepublik denken: Sie ist
hervorgegangen aus der Protestbewegung und steht nun vor der Frage: Was wollen wir eigentlich über den Protest hinaus? Bei den Grünen plant man inzwischen einen Strategiekongreß, in dem diese Frage im Vordergrund stehen soll. - Wenn es nun gelingt, sich selbst die Zeit zu nehmen, die man braucht, um zu entscheiden. Was will ich eigentlich? - was macht man mit diesem Freiraum?
Joseph Weizenbaum: Dann hat man es geschafft.
Markus Schmidt: Damit allein schon?
Joseph Weizenbaum.- Möglicherweise. Das, was sich bei den Grünen abspielt, daß sie wissen müssen, was sie tatsächlich wollen, das ist ja auch die Aufgabe des Einzelnen. Und das ist eine sehr schwierige Aufgabe in dieser Welt.
Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht mit meinen vier Kindern: Ungefähr im gleichen Alter kamen sie zu mir, um sich in bestimmten Lebenssituationen Rat zu holen. Und ich habe schließlich allen den gleichen Rat gegeben, ganz einfache Hinweise - aber nicht, weil ich ihn schon vorher gewußt hätte: Er hat sich jeweils neu aus jeder der einzelnen Situationen entwickelt. Worauf ich damit hinweisen will. Es kommt gar nicht so sehr darauf an, was im einzelnen für ein Resultat entsteht. Viel wichtiger ist es, wie man dahin kommt. Der Weg ist das Ziel.
Letztes Jahr sprach ich auf einer Podiumsdiskussion hier in Berlin von dem Kern aller großen Religionen in der Weit. Christentum, Buddhismus, Islam. Sie haben alle etwas gemeinsam: die Lebe.
Damals hat mir jemand aus dem Publikum das Brecht-Zitat entgegengehalten "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral". Er hatte recht: Es geht nicht nur um Liebe, es ist Brot und Liebe. was notwendig ist. Es ist für uns, die wir hier in einem schönen Haus bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen, sehr einfach: Wir können uns die Zeit nehmen. Das können wir aber nur, weil wir das "Fressen" schon haben. Eine große Mehrheit der Menschheit hat diese Zeit nicht, weil sie das Brot nicht hat. Das darf nicht vergessen werden.
Markus Schmidt: Wenn Sie liebe als den Kein der Religionen bezeichnen: Können Sie noch etwas genauer sagen, was Sie darunter verstehen?
Joseph Weizenbaum: Nein.
Markus Schmidt.- Man kann also kein Pauschalrezept geben für die Liebe. Sie ist jeweils individuell ...
Liebloses Denken
Joseph Weizenbaum: Das stimmt auch nicht. Die Welt ist kein Computer, sie ist nicht binär auf gebaut. Es ist nicht so, daß man es entweder pauschal sagen kann oder daß es nur vom Einzelnen abhängt. Es gibt hier kein "entweder - oder"!
Liebe ist eine solche umfassende Idee, sie ist so tiefgehend . . . - wie könnte man sie in einem Satz oder auch in einem Buch oder selbst in einer Bücherreihe zum Ausdruck bringen? Und selbst die Symphonien, die man in einem ganzen Leben schreibt, wenn man Beethoven heißt - eine endgültige Definition werden auch sie nicht liefern. Obwohl man als Künstler vielleicht am ehesten etwas davon zum Ausdruck bringen kann.
Definieren kann ich die Liebe jedenfalls nicht. Bedeutet das dann, daß ich keine Liebe erfahre? Ich kann nur sagen: Ich erfahre sie in diesem Augenblick. Und wer dazu etwas wissen will ' der muß mit mir leben. Sagen kann ich es nicht.
Oliver Thornas Domzalski.- Ebenso könnte vielleicht ein Musiker nicht sagen, was Musik ist.
Joseph Weizenbaum: Ich muß in diesem Zusammenhang oft an die Delphine denken, die ja ein ebenso großes und entwickeltes Gehirn haben wie der Mensch. Ich frage mich, ob sie überhaupt einen Begriff von "Wasser" haben.
Markus Schmidt: Aber vielleicht kann man doch auch mit begrifflichen Hilfsmitteln noch etwas näher herankommen. Wir haben vorhin über die Armen und die Reichen, die Amerikaner und die Europäer gesprochen. Das heißt, wie haben abstrakte Begriffe gebildet, die wir über die Realität stülpen. In gewisser Weise (insbesondere, wenn es um soziale Tatsachen geht) ist das doch ein liebloses Denken. Vielleicht könnte das eine Annäherung sein: Daß man im konkreten einzelnen Fall das jeweils Richtige zu tun imstande ist. Die Frage ist dann allerdings: Was ist das jeweils Richtige und wie kommt man dazu? Ganz bestimmt ist es jedenfalls nicht notwendig, es in irgendeiner abstrakten Sprache auszudrücken.
Adrian Domzalski.- Ich glaube, man muß hier Begriff und Verständnis auseinanderhalten. Einen Begriff von Liebe braucht man nicht, genausowenig wie es sinnvoll ist - normalerweise jedenfalls - einen Begriff von den Körperfunktionen zu haben: Wenn ich zu genau darüber nachdächte, wie und warum mein Herz schlägt, hätte ich Angst, daß es aufhört zu schlagen.
Joseph Weizenbaum: Auch das Beispiel der Musik kann hier sicherlich weiterhelfen. Man kann sehr wohl wissen, was Musik ist, man kann sogar gute und schlechte Musik unterscheiden, ohne sie begrifflich zu definieren. Das gleiche gilt übrigens auch für die Intelligenz. Ober all das - Musik, Liebe, Intelligenz - kann man durchaus sprechen, man kann es sogar verstehen, auch ohne Deduktionen. Man muß es erlebt, gelebt haben. Sonst weiß man gar nichts, selbst wenn man alle Bücher gelesen hätte, die es dazu gibt.
Markus Schmidt: Wie schützt man sich dann aber vor Illusionen? Es geschieht doch sehr leicht, daß man meint, man sei ein liebevoller oder auch gerechter Mensch, während im Grunde damit oft nur Selbstliebe und Selbstgerechtigkeit bemäntelt werden.
Dorothea Domzalski.- Aber schützen davor begriffliche Definitionen?
Joseph Weizenbaum: Die Unterscheidungsfähigkeit, durch die man sich vor Illusionen schützt, findet man meistens erst im Nachhinein. Im aktuellen Augenblick hat man sie meistens noch nicht. Wie oft habe ich z.B. gemeint, den "Macbeth" von Shakespeare verstanden zu haben. Und jedesmal, wenn ich ihn wieder einmal sehe, denke ich: Nein, bisher habe ich ihn nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich ihn! Schließlich, wenn man etwas älter wird, stellt man fest: Das Verständnis gibt es gar nicht. Es ist immer eine Entwicklung. Wieder einmal: Der Weg ist das Ziel.
Adrian Domzalski: Die Frage nach der Illusion kann man ja durchaus auch an die Wissenschaft und Technik stellen. Gerade dadurch, daß man sich abstrakte Begriffe bildet, entsteht die Vision, man könnte alles das auch beherrschen, was man definiert hat. So glaubt man z.B. nicht mehr, ein Gewitter bedeute den Zorn der Götter - statt dessen hat man Begriffe davon, wie das Wetter funktioniert und meint nun, auch selbst in die Wettervorgänge eingreifen zu können.
Joseph Weizenbaum: Ein sehr gutes Beispiel! Ich weide oft gefragt: Was erwartet uns? Wie wird sich die Computertechnologie entwickeln? Und ich werde in der gleichen Haltung gefragt, wie man einen Meteorologen nach dem Wetter von morgen fragt! Man glaubt an eine Entwicklung die uns als Menschen nichts zu tun hat, sich - wie das Wetter - unabhängig von uns vollzieht. Wieder einmal das Märchen von der autonomen Entwicklung von Wissenschaft und Technik: Ohne jeden Bezug zum Menschen und zu gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das stimmt aber nicht!
Bescheidenheit
Markus Schmidt.- Ich möchte doch noch einmal auf das Denken zurückkommen, weil ich den Eindruck habe, daß es sehr schlecht weggekommen ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob man wirklich ehrlich ist, wenn man die Fähigkeit des Denkens als unwesentlich beiseite schiebt und sich auf die spontane Intuition in der jeweiligen Situation verläßt. Oder anders gefragt- Gibt es nicht doch eine Möglichkeit, das Denken so weiter zu entwickeln, daß es Positives erzeugt? Daß das Denken Schädliches hervorgebracht hat - eine Zivilisation, die die Natur zerstört, eine Rüstungsmaschinerie mit Overkill-Kapazitäten -, das stimmt natürlich alles. Aber kann die einzige Konsequenz davon sein, mit dem Denken aufzuhören und sich auf das Gefühl zurückzuziehen?
Adrian Domzalski.- Mir ist allerdings die Frage, ob das Denken heute so sehr der Verteidigung bedarf. Das rationale Denken zu verteidigen, scheint mir so zu sein, als wenn jemand in eine Obdac Wosenküche ginge und sagte: Leute, überfreßt euch nicht! Das Denken scheint mir nicht gerade vorn Aussterben bedroht zu sein.
Markus Schmidt.- Doch, es ist vom Aussterben bedroht - und zwar gerade auch in der Computertechnologie. Da hat man scheinbar einen Bereich, wo einem das Denken abgenommen wird, was natürlich in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Man meint aber, man könne Entscheidungsprozesse an eine Maschinerie übergeben.
Ich habe nun noch eine Frage an Sie persönlich, Professor Weizenbaum: Sie stehen in einem Lehrberuf, in dem Sie fortwährend mit Studenten umgehen, die im Bereich der Informatik unterrichtet werden. Daneben aber vertreten Sie eine Haltung, die besagt: Worauf es wirklich ankommt, ist etwas grundsätzlich anderes. Gibt es für Sie Verbindungen zwischen diesen beiden Ebenen oder laufen sie gewissermaßen parallel?
Joseph Weizenbaum: Ich muß es noch einmal betonen, daß ich nicht glaube, daß sich die Wirklichkeit durch ein binäres "entweder - oder" erklären läßt. Ich habe auch nicht den Eindruck, daß das Denken in irgendeiner Weise verachtet würde. Gerade die Informatiker sind überzeugt davon, daß das Denken - und nur das Denken - uns retten kann. So zum Beispiel Prof. Marvin Minksk, der ganz tief glaubt, daß alles, was wir Emotionen und Gefühle nennen, letztlich auf rationale Strukturen zurückzuführen ist, und daß diese daher auch von Computern bearbeitet und simuliert werden können. Viele Kollegen sind davon überzeugt, daß es letzten Endes nichts anderes gibt als das Denken.
Markus Schmidt.- Sie sprechen jetzt von der Ratio. Das meine ich mit "Denken" nicht unbedingt.
Leo Domzalski. Im Deutschen gibt es den Begriff "Denker". Damit meint man Menschen, die wirklich nachdenken über die Welt, das Leben. Das ist doch eine andere Art von Denken als die, weiche man durch die künstliche Intelligenz nachzuahmen versucht. Und ich meine, diese Art von Denken ist nicht inflationär, sondern . . . -
Markus Schmidt. . . vom Aussterben bedroht!
Joseph Weizenbaum: Ja, aber dann gerade von der Seite des Positivismus und der Computertechnologie! Es ist ganz klar, wo ich in dieser Frage stehe: Diese Art von Denken genügt nicht. Auf der anderen Seite verkenne ich aber auch nicht, daß es notwendig ist. Wir müssen rechnen, und zwar nicht nur mit Zahlen. Das ist notwendig, aber es reicht nicht aus.
Markus Schmidt: Ich bitte um Entschuldigung, wenn meine Frage jetzt wieder "binär" klingt. Meines Erachtens zeichnet sich hier aber doch eine sehr deutliche Polarität ab: auf der einen Seite der rein operationalistische Verstand, der immer zu einem bestimmten, definierbaren Zweck führen will. Dieser läßt sich durch den Computer scheinbar vom Menschen loslösen. Mir ergibt sich daraus das Folgende: Der Mensch hat etwas aus sich herausgesetzt und ist gerade im besten Begriffe, die Gewalt darüber zu verlieren. Ein komplexes Computerprogramm ist für den einzelnen Verstand nicht mehr denkend nachzuvollziehen. - Frage: Was muß dem auf der anderen Seite entgegengesetzt werden?
Joseph Weizenbaum: Bescheidenheit!
Markus Schmidt: Bescheidenheit?
Joseph Weizenbaum: Ja, und das Erkennen -der Notwendigkeit, Zeit zu lassen. Warum die Eile? Warum muß jeder wissenschaftliche Fortschritt sofort in Technologie umgesetzt werden? Und dann sofort vermarktet werden?
Was kann man tun? Man muß die Welt davon überzeugen, daß wir solche Eile nicht nötig haben. Wir brauchen Zeit, um uns zu besinnen - als Einzelner und als Gesellschaft. Beim Fliegen gibt es die drei ersten Hauptgesetze der Flugsicherheit. Das erste ist: die Fluggeschwindigkeit beibehalten, das zweite ist. die Fluggeschwindigkeit beibehalten, und das dritte ist: die Fluggeschwindigkeit beibehalten. Dann erst kommen alle anderen Gesetze der Flugsicherheit.
So ist es auch mit uns. Wir haben uns eingebildet - allerdings nicht bewußt: Wenn wir die Fluggeschwindigkeit nicht beibehalten, stürzen wir ab.
Man kann sich ja einmal fragen: Was fürchtest du, wenn du jetzt nicht irgendwo hingehst, wenn du jetzt rächt telefonierst - was fürchtest du? Und wenn man das wirklich hinterfragt, würde schließlich herauskommen: Es ist doch nichts zu fürchten. Hier ist wirklich eine Befreiung notwendig.
Dorothea Domzalse.- Mich würde nun noch interessieren, wie viele Menschen in den Staaten diese Art von Technikkritik und Kritik an den Medien empfinden oder aussprechen wie Du und Deine Freunde. Und darüber hinaus: Gibt es Menschen, die etwas dagegen tun, weil sie den Schaden erkennen? Inwieweit können sie Vorbilder sein?
Joseph Weizenbaum: Das sind etwa die gleichen Leute, die sich auch für den Frieden einsetzen. Das Bewußtsein, welche Schäden die Medien für die Gesellschaft bewirken, ist dasselbe Bewußtsein, das einen über den Weltfrieden nachdenken läßt und über solche irrationalen Erscheinungen wie den Bolschewistenhaßin den USA.
Ich habe gerade zum erstenmal in meinem Leben zwei Wochen in der Sowjetunion verbracht. Ich war tief beeindruckt von der Freundlichkeit und dem Entgegenkommen der Menschen dort. Ein Freund aus Ostberlin dagegen hat es einmal erlebt, daß ihn in Washington jemand ansprach und ihm direkt ins Gesicht sagte: Im Vietnamkrieg habe ich meinen Teil an Kommunisten erschossen, und ich wäre bereit, jeden Tag einen Kommunisten zu erschießen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß etwas Entsprechendes in der Sowjetunion unmöglich wäre.

Markus Schmidt: Eine letzte Frage: Sie halten jetzt gleich einen Vortrag im Zusammenhang der Anthroposophischen Gesellschaft. Hat die Anthroposophie oder hat Rudolf Steiner für Sie eine persönliche Bedeutung oder bedeuten Ihnen die Ideen etwas, die von der Anthroposophie ausgehen?

Joseph Weizenbaum: Ich habe einmal in Tübingen einen Vortrag gehalten mit anschließender Diskussion. Da fragte dann jemand, ob ich als Philosoph ausgebildet sei. Ich verneinte das, worauf mich jener Mann darauf hinwies, ich hätte eben etwas Ähnliches wie Kant ausgesprochen. Meine Antwort war: Ich nehme an, daß Kant sich gefreut hätte, daß ich - obwohl ich kein Philosoph bin - auf dieselbe Sache von einer anderen Seite komme. Das hat mit meinem Verhältnis zur Anthroposophie zu tun. Ich treffe immer wieder Menschen, zu denen ich sofort eine Verbindung empfinde. Und dann - oft viel später - stellt sich heraus, daß Kinder dieser Menschen auf einer Waldorfschule sind oder sie selbst Waldorfschüler oder Anthroposophen sind. Diese Erfahrung begegnet mir immer wieder. Ich muß mir die Menschen gar nicht danach aussuchen, ob sie Anthroposophen oder Waldorfschüler sind. Und ich bin auch nicht sonderlich bewandert in der anthroposophischen Literatur. Bis vor kurzem konnte ich das Wort "Anthroposophie" kaum aussprechen. Es ist schön zu erfahren, daß man sich aus ganz verschiedenen Richtungen auf demselben Boden treffen kann.

- Markus Schmidt

 

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