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DAS KOLUMBUS-GEFÜHLEntdeckungen in einer virtuellen Welt."Das wahre Multimedium ist der menschliche Organismus selbst." Lewis Mumford, dem dieser Aufsatz gewidmet ist.
AN DER ALTEN KÜSTE In den sechziger Jahren, als ich ein kleiner Junge gewesen bin, war der Computer ein legendärer Apparat. Er galt als eine Art elektronischer Geist in der Flasche, der Leute in Apollo- Raumschiffen auf den Mond lenken konnte. Im folgenden Jahrzehnt warfen Begriffe wie Rasterfahndung, Jobkiller und Big Brother erstmals Schatten auf die märchenhafte Maschine. Und je mehr spektakuläre oder beängstigende Dinge ich über den Computer hörte, desto unzufriedener machte es mich, nur Informationen zu haben und keine Erfahrungen. Ich fühlte mich immer mehr herausgefordert, selbst den Weg zu dem geheimnisvollen Kontinent der Daten zu finden, der jenseits der ganzen anbrandenden Nachrichten liegen mußte. Kolumbus, als er sich im Jahr 1491 sein Flaggschiff "Santa Maria" zugelegt hat, muß getrieben worden sein von der selben abenteuerlichen Gewißheit, Entdeckungen zu machen, die mich 490 Jahre später dazu veranlaßte, mir einen Computer zu kaufen. Es war in einem dieser nüchtern ausgestatteten Computerläden, die nun, wie vor Jahren die Video-Shops, in größeren Städten eröffnet wurden. Während ich dem Verkäufer zuhörte, fiel mir ein dünner Mann auf, der an einem der ausgestellten Rechner herumfuhrwerkte. Neben ihm kam mit einem aufreizenden Fräsgeräusch grün und weiß gezeiltes Endlospapier aus einem Drucker. Ich fühlte, daß der dünne Mann ein Programmierer sein mußte. Zum einen saß er vor einem richtigen Computer. Ein richtiger Computer hat einen Monitor, auf dem grüne Zeichen leuchten und eine elegante Tastatur, soviel wußte ich. Mein Geld reichte gerade für einen Homecomputer, den ich an den Fernseher schließen konnte und der aussah wie ein Plastik-Brotwecken, in den eine Schreibmaschine eingebacken war. Zum anderen stritt der dünne Mann mit dem Gerät. Erregt warf er eine Zeichenfolge nach der anderen in die Tasten. Dabei starrte er wild auf den Bildschirm. Später sollte ich erfahren, daß diese Gemütsverfassung Debugging heißt, Fehlersuche. Der dünne Mann fetzte an der rauchgetönten Schallhaube des Druckers das Papier ab, das sich auf der Flucht vor dem Fräsgeräusch inzwischen bis hinunter auf den Teppichboden gewunden hatte, und begrub, während er die bedruckte Bahn wie einen langen Papyrus las, die Tastastur unter dem zu einem immer größeren Durcheinander verknickten Dokument. Ein echter Programmierer. Ich war schwer beeindruckt. Mir fiel gleich eine Stelle aus dem Buch "Der große Papalangi" ein, wo ein Südsee-Häuptling in einem europäischen Stummfilmkino zum ersten Mal in seinem Leben einen Pianisten sieht: "Umgeben von gespenstischem Lärm kämpft ein Mann im Sitzen gegen eine große Truhe".
ERSTE FAHRTEN Kreuzen gegen den Magnetsturm. "With each movement of the sword the adept visualizes himself drawing a line of pure white light (..) His next task will be to vivify this shape by pointing his hand towards its centre and pronouncing the word YHVH." David Conway, Anweisungen zur Initialisierung des Kabbalistischen Meister-Rituals
Meine Verwandlung vom analogen Wilden zum digitalen Seefahrer ging vonstatten, als ich den Computer zum ersten Mal einschaltete. Ich wollte programmieren, und ich mußte: BASIC meldete sich READY, und der Cursor blinkte. Das schmale Handbuch zu dem Rechner las sich wie eine aus dem Nubischen ins Deutsche übersetzte Bedienungsanleitung für ein chinesisches Kofferradio. Meine Intelligenz war gefordert. Zwei Kannen Tee später hatte ich die ungefähre Funktionsweise von acht BASIC- Anweisungen dechiffriert und ein Programm geschrieben, das ein A auf dem Bildschirm hin und her scheuchte. Ich konnte mich gar nicht sattsehen daran. Sowas brachte keine Schreibmaschine zuwege. Ich bin Schriftsteller, und es kommt durchaus vor, daß ein einzelnes, gedankenstoffliches A von irgendwoher irgendwohin durch mein Bewußtsein segelt und dabei in den Monitorbereich der Aufmerksamkeit gerät. Nun konnte ich diese flüchtige kleine Geistesgeste direkt darstellen, zumindest ein bißchen, a bit. Eine Woche nach meinem A-Erlebnis fand die erste einer Reihe von Lesungen nach Veröffentlichung meines ersten Buchs statt. Autorenlesungen haben gewöhnlich den Unterhaltungswert eines Kirchenbesuchs, und ich hatte mir Gedanken gemacht, was dagegen zu unternehmen war. Versuche wie Jazz & Lyrik oder Performance hatten schon einen Bart, also lud ich eine Punkgruppe zur Zusammenarbeit ein. Und dann beschloß ich noch, den Computer mit auf die Bühne zu nehmen. Innerhalb von fünf Tagen stapelte ich emsig wie ein Schiffsjunge beim Kartoffelschälen meine paar Anweisungen zu einem mehr als sechshundert Zeilen langen Programm aufeinander, das eine Mischung aus Kinovorspann, schwingenden Linienschwärmen und Comic auf dem Bildschirm abspielte. "Lassen Sie sich nicht von der Technik blenden", programmierte ich in eine Sprechblase, "ich versuche nur die Langeweile wegzurationalisieren". In der Nacht vor der ersten Veranstaltung bastelte ich immer noch an dem Programm, das inzwischen POETRONIC hieß. Dann trat ein Fehler auf, dessen Ursprung ich nicht orten konnte. Ich verhedderte mich in meinem Programm wie in einem Swimmingpool voller Blumendraht. Debugging. Gegen vier Uhr morgens warf ich alles über Bord bis auf einen etwa dreißig Zeilen umfassenden Kern und setzte die Segel mit zusammengebissenen Zähnen nochmal neu. Learning by doing nennt man das, oder: Try and furor. Während der Lesung geriet ich dann in magnetische Stürme. Woran ich nämlich nicht gedacht hatte, war, daß der Computer auf die elektrischen Streufelder der turmhohen Musikanlage gereizt reagieren könnte. Ein Videoprojektor strahlte das Monitorbild riesig auf die Bühne. Das Einlesen der Programme von einem Cassettenrecorder in den Computer strapazierte die Geduld des Publikums. Als es endlich soweit war und ich starten konnte, tauchte aus den Untiefen des Speichers der Schrecken der sieben Meere auf: SYNTAX ERROR. In der Hoffnung, die Leute könnten annehmen, das gehöre schon mit zur Vorführung, programmierte ich mit fliegenden Fingern live.
GROSSE STRÖMUNGEN Licht, Feuer, Strom. "Die Verbindung von Körperlichem und Unkörperlichem ist aber ein Rätsel, da keine unmittelbare Einwirkung des einen auf das andere stattfinden kann. Diese Einwirkung kann nur durch die Vermittlung eines Dritten geschehen, nämlich durch das Licht einerseits und die Seele (animus) andererseits, da diese die beiden Wesenheiten sind, die sowohl körperlich als auch unkörperlich vorkommen. Das Licht ist die universelle bindende Naturkraft." Franciscus Patritius, 1529-1597
Die Leuchtfeuer der alten Küste versinken hinter dem Horizont und unter dem Glanz der elektronischen Sterne geht die Fahrt ins Neue: Was mich am Programmieren und auch am Schreiben mit einer Textverarbeitung von Anfang an fasziniert hat, war das Licht. Es gibt Leute, denen es schwerfällt, sich von der Schreibmaschine auf einen Computer umzustellen. Ihnen fehlt das Stoffliche, der Anschlagpatsch des Typenhebels auf dem Papier, die Schweinereien mit Tipp-Ex, Kleber und Schere. Autoren arbeiten seit jeher am Rand des Materiellen, mit einem hauchdünnen bißchen Papier und den farbbandschwarzen Abdrücken der Buchstaben darauf. Die Sprache, das eigentliche Material, ist stofflos. Für mich bedeutet das Schreiben am Computer nun ein angemesseneres Arbeiten. Jetzt kann ich sagen: Meine Tinte ist das Licht. Ich stelle den Bildschirm stets so ein, daß ich mit weissen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund schreibe. So machen die die Zeichen deutlich, daß sie Zeichen sind: sie erscheinen luzid, unberührbar und flüchtig. Der Text zeigt sich rein. Die Freude am Leuchtenden regt meine Phantasie an und bewirkt, daß ich die Maschine in immer neuem Licht sehe. Sie wird metaphorisch. Derart verwandelt sich der Computer für mich in ein poetisches Erkenntnis-Instrument. Bereits das weiche Aufleuchten des Monitors beim Booten kann ich dann als eine Parodie wahrnehmen: "Technisches Modell eines Sonnenaufgangs ohne Farben"; fiat pix. Dieser andere Blick hält schon ein einzelnes Pixel (Picture Element), einen Lichtpunkt am Bildschirm fest als Polarstern, der mir bei der Kursbestimmung hilft: Woher kommt, wohin führt mich die Faszination an dieser gläsernen Bildschirm- Oberfläche, an der sich so vieles trifft, spiegelt und reflektiert? Wie kommt es, daß sie mir einmal als Meeresoberfläche erscheint, durchscheinend bis hinunter auf eine leuchtende Tiefseefauna von Symbolen, und dann wieder als Ausschnitt eines Firmaments, über das Stern-Zeichen scrollen und grafische Meteore huschen? Wo ist oben, wo ist unten? Und immer wieder wird der Rechner auf meinem mit Blumen, Dosen, bunten Stiften und Papieren vollgeräumten Schreibtisch zur Feuerstelle. Seit der Vorzeit winkte dem Menschen aus dem gezähmten Feuer die Verheißung, dem Ursprung von Licht, das an der Sonne und den Sternen so götterweit entfernt ist, näher und näher zu kommen. Feuer ist der Flugplatz der Materie, ein Ort der Transformation. Die Flammen sind die Flügel der im Feuer verwandelten Stoffe, die aufsteigen als Vögel aus Licht und Hitze. Ich sehe einen Menschen vor dem Feuer sitzen, tief in der Nacht der Zeiten, Jahrzehntausende vor der Schrift, und ich sehe mich vor dem Bildschirm sitzen, dem Lagerfeuer des zwanzigsten Jahrhunderts, und frage mich: Was hat sich seither verändert, außer daß ich Hosen anhabe? Ich sehe den Monitor und muß an den Karfunkel denken, den Stein der Alchemie, der aus eigener Kraft im Dunkeln leuchtet. Ich sehe den Bildschirm, auf den mir das Licht Nachrichten aus den internationalen Datennetzen schreibt, und erinnere mich an den "Weltenspiegel" Alexanders des Großen, "worin er mit einem Blicke alle Geheimnisse und Pläne seiner Feinde durchschaute". Muß man sich wundern, wenn Friedrich Kittler behauptet, der Computer werde "den Begriff der 'Medien' einkassieren und zum Medium schlechthin" werden?; muß man nicht vielmehr anfügen, daß der Computer älteste wie jüngste Mythen und Phantasien einkassiert und sich auflädt zu einem gespenstischen Mega-Mythos? Oder hatte Marshal McLuhan den schärferen Blick, indem er nicht den Computer, sondern das Licht als das absolute Medium sah?: "Elektrisches Licht ist reine Information. Es ist gewissermaßen ein Medium ohne Botschaft, wenn es nicht gerade dazu verwendet wird, einen Werbetext Buchstabe um Buchstabe auszustrahlen.(..) Die Botschaft des elektrischen Lichts wirkt wie die Botschaft der elektrischen Energie in der Industrie extrem gründlich, erfaßt alles und dezentralisiert. Denn elektrisches Licht und elektrischer Strom bestehen getrennt von ihren Verwendungsformen, doch heben sie die Faktoren Zeit und Raum im menschlichen Zusammenleben genauso auf wie das Radio, der Telegraf, das Telefon und das Fernsehen, und schaffen die Voraussetzungen für eine Beteiligung der Gesamtperson." Ich sehe mich vor dem Computer sitzen, der den Menschen intensiv wie kein technisches Mittel zuvor dazu verlockt, Modelle seiner selbst zu entwerfen, und sehe den Narziß, den Jüngling, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Das Wort Narziß kommt aus dem Griechischen, narkosis heißt 'Betäubung', und "der Jüngling Narziß", so McLuhan, "faßte sein eigenes Spiegelbild im Wasser als eine andere Person auf. Diese Ausweitung seiner Selbst im Spiegel betäubte seine Sinne, bis er zum Servomechanismus seines eigenen erweiterten und wiederholten Abbilds wurde". Was hat sich verändert seit dem archaischen Feuer? Sherry Turkle hat Kinder, die an Computern spielen, beobachtet, und deren Eltern: "Daß Vier- oder Dreijährige lernen können, wie man Feuer macht, stellt eine reale Gefahr dar, aber es bringt kein Element unseres Bildes von der Kindheit ins Wanken. Wir haben keine Schwierigkeiten, dies zu akzeptieren - im Gegenteil: Wir sind stolz darauf, wenn Kinder früher als von uns erwartet körperliche Fähigkeiten und Geschicklichkeit in der Manipulation konkreter Materialien entwickeln. Aber eine grundlegende Veränderung im Bereich der Manipulation symbolischer Materialien durch das Kind empfinden wir als Bedrohung." Mit dem elektrischen Strom wurden die Eigenschaften des Feuers - Licht, Wärme und Zerstörungs- oder Verwandlungskraft - abspaltbar. Strom ist in gewissem Sinn die alchemistische Mischung aus Feuer und Wasser: Er fließt in Wellen, strömt, und macht zugleich die Eigenschaften der Flammen über beliebige Entfernungen transportabel. In Funktionseinheiten wie Glühbirne (Licht), E-Herd (Wärme), Röntgenlaser (Zerstörung) oder Computer (Licht/Verwandlung) haben wir die derzeit differenziertesten Methoden der Beherrschung des Feuers vor uns: Geschlossene Feuerstellen. Öfen. Was ist ein Fernseher also anderes als ein Ofenloch, in dem ein kaltes Feuer flackert? Zwar ist daran noch die tiefe Faszination zu spüren, die einen stundenlang in das Züngeln von Flammen starren läßt, aber die Visionen, die das natürliche Feuer in der Großhirnrinde des Menschen aufflackern läßt, werden heute vorgefertigt eingespielt. Was also ist ein Computer anderes als die bisher komplizierteste Ausgabe eines über beliebige Entfernungen wirksamen Schürhakens? Beim Programmieren kann man ins Innere des kalten Feuers fassen, ohne sich zu verbrennen. Der Rechner dosiert das Phosphorglühen am Bildschirm Funkenpixel für Funkenpixel und hilft auch, das Feuer in anderen Arten von Öfen zu schüren, den Zündfunken im Motor etwa, oder den geradezu peinlich archaisch aus dem Aggregat hervorbrechenden Feuerstrahl der Rakete. Was, frage ich mich, ist geschehen seit dem frühen Feuer? Ich programmiere, Stunden, Tage und Nächte, und in einer Blitzspur durch die Jahrhunderte sehe ich mich, ohne es zu wollen, die Machwerke vergangener Priester weiterführen, der Herren der Feuerkulte, des indischen Agni Hotra, der persischen Parsen, die die Flammen für Zarathustra hüteten, des Ewigen Lichts. Ich sehe die Suche nach der Vollkommenheit: das fehlerfreie Programm. Und ich opfere: Zeit. In sitze eine Nacht lang tüftelnd vor dem Computer und versuche, ein Programm Gestalt annehmen zu lassen, das in digitalisierten Videobildern Gestalten erkennen soll, bis schließlich gegen Sechs draußen die Sonne aufgeht und eine letzte Gestalt ihr Bild findet: In dem Papiersalat neben meinem Monitor fällt mein Blick auf eine herausgerissene Zeitungsseite, auf der ein offener IC, ein Mikroprozessor, von oben fotografiert ist, und ich sehe ein Abbild der Sonne. Eingefaßt in die Weltraumschwärze des Gehäuseunterteils glänzen die goldenen Pin-Strahlen, die ausgehen von dem Chip, in welchem die Kernfusion der Elementarteilchen Null und Eins alles, was ins Schwerefeld der Central Process Unit gerät, zu Daten verschmilzt oder auswirft als Fehlerprotuberanzen. Ich sehe - "In der ägyptischen Theologie war das Auge das wichtigste Organ des Sonnengottes Re: Es besaß eine unabhängige Existenz und spielte eine kreative und direktive Rolle in allen kosmischen und menschlichen Vorgängen. Der Computer erweist sich als das Auge des wiedererstandenen Sonnengottes - das heißt, als das Auge der Megamaschine, das als Argusauge oder Detektiv dient, wie auch als allgegenwärtiges vollziehendes Auge, das absolute Unterordnung unter seine Befehle fordert, da ihm kein Geheimnis verborgen bleibt und kein Ungehorsam der Bestrafung entgeht" (Mumford).
WINDSTÄRKEN Entfernung und Geschwindigkeit, Raum und Zeit. "Alle Pläne des Königs müssen zu seinen Lebzeiten ausgeführt werden. Geschwindigkeit an sich ist bei jedem Unternehmen ein Ausdruck von Macht und wird ihrerseits zu einem Mittel der Machtentfaltung. Dieses Element des Mythos der Maschine ist so tief in die Grundvoraussetzungen unserer eigenen Technologie eingedrungen, daß die meisten von uns seinen Ursprung aus dem Auge verloren haben." Lewis Mumford
Aus den Augen segelt die Aufmerksamkeit voraus. Der Blick ist schon dort, wo der Körper noch nicht ist. Vom Auge zum Anblick, von hier nach dort: dazwischen, wie eine unsichtbare Saite, spannt sich Entfernung. Und es scheint, als schwinge in jeder Entfernung ein ironischer Unterton des Weiten Raums mit, der sich über den kleinen, ortsgebundenen Menschenleib amüsiert. Diesem zarten Spott des Raums, der sich seit Einstein wohl manchmal auch vor Vergnügen krümmt, versucht der Mensch zu entgehen, indem er die Entfernungen entfernt. Die Erfahrung, mittels eines Dreirads rasant voranzukommen, war für mich ein frühkindliches Schlüsselerlebnis. Über Tretroller, Fahrrad, Moped, Motorrad und Auto nimmt das Tempo dann zu, mit dem Verkehrsflugzeug ist schließlich die Alltagsobergrenze an öffentlicher Geschwindigkeit erreicht, weitere Beschleunigung des Körpers ist nur noch mit einem Kampfjäger oder einer Raumfähre möglich. Fast alle Computerfreaks die ich kenne, lieben Geschwindigkeit und haben, wie auch ich, eine Neigung für flotte Autos und schnelle Schnitte im Kino. Zwecke verunreinigen die Freude am Eilen: Die Bilder im Kino sind bloße Reizbrücken, denn das eigentliche Vergnügen liegt in dem Moment, in dem sie wechseln; gleichermaßen sind bei einer Autofahrt Abfahrt und Ankunft banal. Der wahre Genuß ist die pure Geschwindigkeit: "Ich weiß zwar nicht, wo ich hinwill, aber dafür bin ich schneller dort" (Helmut Qualtinger, "Der Wilde mit seiner Maschin'"). Hier trumpft der Computer mit einer seiner Verheißungen auf: alles beiseitezufegen, was bremst. Der Computer, jedermann weiß das, ist sagenhaft schnell. Ein Mikrochip ist eine Art Maggiwürfel aus kristallinem Tempo. All die Verzögerungen durch schlechten Straßenzustand, durch Bilderreihen, die erst wieder im Vierundzwanzigstelsekundentakt vorübergeführt werden müssen, oder durch physiologische Einschränkungen wie den Blutsturz des Piloten von den Fliehkräften, die ein Überschalljäger entwickelt, verschwinden in dem Moment, in dem der Computer sämtliche Entfernungen auf einen Schlag auslöscht: RUN. Computergeschwindigkeit und -leistung wird nicht mehr in Kilometern pro Stunde oder in PS gemessen, sondern in IPS, Instructions Per Second. Die Reise in die elektronische Welt jenseits der Dinge verläuft ohne Zeitverlust - jedenfalls hielt ich an dieser Auffassung während der ersten Wochen, die ich programmierte, fest. Endlich pulsten die Ereignisse als events, weit schneller als alle menschlichen Wahrnehmungsreflexe, in molekularen Zeitschüben von Nanosekunden. Wenn der Computer rechnet, läuft endlich der Film ohne Bilder, der nur noch aus Schnitten besteht, die endlose Neuigkeit, die permanente Entdeckung. Über die mißliche Tatsache, daß dabei nichts mehr zu erkennen ist, helfen Anhängsel wie Bildschirm oder Drucker hinweg, mit denen man Endergebnisse, stabile Benutzeroberflächen oder einzelne Augenblicke des Entdeckungsflusses wie Standphotos aus dem Bitgeflitze schießen kann. In der ersten Zeit hatte ich vor dem Computer, obwohl er sich von mir befehligen ließ, einen gewissen übermenschlichen Respekt. Das elektronische Gegenüber vermittelte mir einen Eindruck von biologischen Unzulänglichkeiten und Einschränkungen. Was der konsequenten Weiterentwicklung der Technik in Weg steht, ist der menschliche Körper. Ich hatte eine Armbanduhr mit einem winzigen Tastenfeld, auf dem man auch rechnen konnte, und ich war sicher, daß sich das noch kleiner machen ließe, aber schon jetzt mußte ich die Tasten mit den Fingernägeln drücken, weil die Fingerspitzen dafür zu voluminös sind. Ich bemerkte unfroh, wie der rasende Umlauf der Daten im Prozessor an den Peripheriegeräten des Computers wieder gebremst und gestoppt wurde, um in die menschliche Aufmerksamkeit kriechen zu können. Auch mein POETRONIC-Programm bestand zu einem Gutteil aus Verzögerungsschleifen, die dem Zuschauer in dem Schneckentempo der neuronalen Rezeption Texte und Bilder faßbar machten. Um die radikale Geschwindigkeit des Computers ungetrübt auskosten zu können, schrieb ich kurze, gewissermaßen philosophische Programme. Jeder Programmierneuling schreibt einmal einen Algorithmus wie 10 GOTO 20 20 GOTO 10 oder er verfaßt unabsichtlich ein Programm, das sich in sich selbst verfährt. Wenn man ein solches Programm startet, passiert scheinbar nichts. Alle Endgeräte schweigen still, der Bildschirm bleibt dunkel. Nur ich saß da und wußte: etwas geschieht. Ein aufregendes Gefühl. Es war, als schwirrte der Mikro-Prozeß mitten in meinem Inneren. Was da durch meine Nerven flitzte, war hochreiner Speed. Bei einem meiner Black-Box-Programme konnte man im ersten Augenblick doch noch etwas sehen: einen Kreis, der vom Mittelpunkt des Bildschirms aus immer größer wurde, bis er schließlich über den Bildschirmrand hinausgewachsen war. Ich wußte, daß das Programm weiterlief. Wie die Emission einer Radarantenne im Trickfilm sah ich den Kreis weiterwachsen. Als flüchtige Figur um den Monitor herum öffnete er sich in mein Zimmer, tauchte mit seinem unteren Bogen in die Erde, ging durch die Wände und über das Haus hinaus als ein strichdünner, weisser Regenbogen über der Stadt auf und schnitt schließlich durch die Atmosphäre in den Weiten Raum. Der Computer war fraglos eine ganz phantastische Maschine. Ich ließ mich wieder dazu herab, Zeichen auf den Bildschirm zu setzen, denn das Gefühl der hochreinen Geschwindigkeit blieb. Ich verschwand in diesem wundersamen Land ohne Entfernungen, startete meine Expeditionen über den Kontinent der Daten. Die Programme, die ich schrieb, waren trivial; McLuhan drückt es so aus: "Mit dem Computer lassen sich viele Dinge in atemberaubender Geschwindigkeit tun, die überhaupt nicht getan werden müssen". Aber da war noch anderes als nur Licht und Geschwindigkeit, das mich gleichermaßen verwirrte und anzog wie Sirenengesang. Während ich die Entdeckungsreise fortsetzte, befiel meinen Körper ein Gefühl von Verlorenheit. Die neue Welt war ein Raum ohne Raum, für einen Körper war darin kein Platz; andererseits konnte man ohne Körper schlecht computern. Wenn ich in zwanzig- oder dreißigstündigen Märschen über die Tastatur durch Haine hell am Bildschirm aufblühender Kurven wanderte, hing mein Körper wie ein Rucksack an meinem unermüdlichen Interesse an dieser seltsamen Tiefe der Maschine. Die analogen Medien zollen dem Raum noch offensichtlichen Tribut, vor allem durch unerwünschte Nebeneffekte. So, wenn bei einem transkontinentalen Telefongespräch die Entfernung hörbar wird durch den Fahrtwind der Signale, das Rauschen und Relais-Knacken, und durch eine Gegenstimme, die weit weg ist; darüber hinaus, wenn sich etwa beim Hören einer Wachswalzen-Aufzeichnung von 1907, auf der Curt Bois "Heinerle, Heinerle" singt, auch noch die vierte Koordinatenachse des Raums vernehmlich macht, die Zeit, als ein Rauschen - time to listen -, dessen Intensität Entfernungen durch die Jahrzehnte fühlbar macht. Das digitale Master-Medium rauscht nicht mehr. An den Signalflanken der Spannungen, die im Mikroprozessor für Null und Eins stehen, scheint der Weite Raum zu Abraum zu zerschwingen. Der Computer hat sein eigenes universelles Ausmaß, den Datenraum, und macht sich über den Raum der materiellen Welt unausgesetzt lustig in Form immer subtilerer Parodien, die in der Branche vornehm Simulationen heißen. Es dauerte noch eine Weile, bis ich zu ahnen begann, was sich dann im Lauf der weiteren Monate durch kleine, schmerzliche Ernüchterungen verdeutlichen sollte: daß das, was den absolut distanzlosen Raum und die absolute, lichtschnelle Geschwindigkeit verkörperte, nicht der reale Computer auf meinem Schreibtisch war, sondern sein Mythos - die phantastische Maschine. Im Kern der realen Maschine halten sich, allerdings trickreich verborgen, Entfernung und Raum unausrottbar festgehakt. Strom und Licht spannen den immateriellen Datenraum am Bildschirm auf. Erst in den Mikrodistanzen zwischen den winzigen Schaltwegen auf dem Siliziumchip deuten sich verräterisch die Spurbreiten der materiellen Welt an. Die gegenwärtigen Kräfte der Technik und der Wissenschaft sind bemüht, das Unbezwingbare an äußerste Ränder hinauszudrängen, in Submikrobereiche oder an die letzten Grenzen der Zeit. Die Quantenphysiker etwa, die sich heute in der Lage sehen, zu beschreiben, was Sekundenbruchteile nach dem Big Bang im weiteren vor sich gegangen ist, haben das Numinose, den Ur-Übergang - wie auch immer man es bezeichnet - hinausgedrängt auf einen verschwindenden Augenblick vor 15 Millarden Jahren, der unfaßbar bleibt. Die Daten, die das theoretisch geklärte All der Physiker stützen, werden passenderweise aus Computerkalkulationen gewonnen, wie etwa der Urknall-Simulation von "Abel Image Research", die die Existenz eines merkwürdigen Elementarteilchens namens Neutrino bestätigte. Im Gegenzug forcieren die Chip- Designer mit jeder weiteren, noch höher integrierten Generation von Schaltkreisen den Versuch eines Big Squeeze - ein synthetisches All auf einen Siliziumpunkt zu verdichten. Vor dem Computer scheint somit auch geklärt: Die Gravitation, diese rätselhafteste der Gewalten, wird vom Programmierer kontrolliert. Er ist es, Lenker der Bit- Quanten, der die Strings und die Anziehungs-Felder im Datenraum ordnet, in denen sie sich fügen zu Systemen und Formen. Allerdings geht Schwerkraft auch von dem Boden aus, auf dem der Programmierer sitzt - was nach und nach dazu führte, daß ich aus dem Datenraum, dieser Fülle ohne Volumen, mit Frustratiönchen beladen in meinen beschwerlichen, einssiebzig großen und nicht lichtschnellen Körper zurückkehrte. Das Bedürfnis nach HighSpeed, das Computerbenutzern im allgemeinen und Programmierern im besonderen zueigen ist, zieht extreme Ungeduld nach sich. Wenn die Hardware schleicht, geht der Programmierer die Wand hoch. Ladevorgänge von der Diskettenstation, die angeforderte Daten erst nach mehreren Sekunden lieferten, empfand ich zunehmend als Strapaze. Den Rechner durch das Ausdrucken mehrerer Seiten Code zu blockieren ohne spoolen zu können, also den Druckvorgang im Hintergrund ablaufen zu lassen, und im Vordergrund schon wieder weiterprogrammieren zu können, bedeutete Ungemach. Ein zäher Compiler - er wandelt in einer höheren Programmiersprache geschriebene Algorithmen automatisch in blanke Maschinensprache um - brachte Ed Post, wie er in einem Aufsatz über "Real Programmers" anmerkt, bisweilen in die Verlegenheit, "ein Mützchen Schlaf zwischen zwei Compilerdurchläufen zu nehmen". Einmal startete ich ein Programm, das eine mathematische Funktion dreidimensional darstellen sollte - eine dieser in der Computerwerbung beliebten Abbildungen von etwas, das aussieht wie ein Netz in Form eines Zuckerhuts oder manchmal wie ein farbenfroher, zerdrückter Sombrero. Erst kam gar nichts. Dann sah ich einen Punkt am Bildschirm, bald darauf noch einen und dann noch einen. An genau diesem Punkt zerbrach meine Illusion vom Computer als einer uneingeschränkten Jetzt-Sofort-Alles-Maschine. Ich war bitter enttäuscht über dieses elend langsame Gepünktel und ging eine Pizza essen, und als ich nach einer Stunde zurückkam, war die Maschine immer noch nicht fertig und ich mußte mich genervt irgendwelchen analogen Beschäftigungen zuwenden, um die Zeit totzuschlagen. Später verlegte ich solche Rechenzeit fressenden Programme, sofern auch durch abgefeimtes Programmieren - und obwohl ich inzwischen eine leistungsfähigere Kiste habe - kein Geschwindigkeitzuwachs mehr herauszuholen war, in die Nacht. Genauer gesagt: in die Zeit, in der ich schlafe, denn die Nacht ist oft die beste Zeit zum Programmieren. In der Nacht versinken die Entfernungen in der Dunkelheit und der Raum schrumpft bis auf die Lichtblasen um die Lampen herum ein. Das ganze Ambiente entspricht mehr den Gegebenheiten des Datenraums. In der Zeit, in der ich schlafe, arbeitet der Rechner dann als meine Traum- Maschine zumeist Bilder aus, fremdartige fraktale Landschaften, oder Szenen, in denen Objekte gewichtlos schweben, von unsichtbaren Lichtquellen beschienen, und ich liege im Bett, träume davon, daß alles in Echtzeit geschieht, und morgens leuchtet dann das fertige Bild auf meinem Schreibtisch, oder eine traumhafte, kleine Animations-Sequenz wartet, wie von einer Fee in den Speicher gezaubert, auf Abruf. Trotz aller Zaubereien waren auf meinen Törns ins Land der Daten der Normal- Raum und die Normal-Zeit als blinde Passagiere immer mit dabei, ob ich nun in den Berechnungen alle Nachkommastellen als Ballast abschnitt und nur noch mit stromlinienförmigen Integer-Zahlen voraneilte, oder mir eine Festplatte anschaffte, die fette Datenladungen in Nullkommaganzwenig in den elektronischen Laderaum fitschte. Ich kenne einen Programmierer, der als Namen für Programme, die er gerade entwickelt, stets nur einen einzigen Buchstaben verwendet, um sich zeitraubendes Tippen zu ersparen; Batches, Makros und Routinen-Bibliotheken verhelfen zu weiteren Einsparungen. Die Beschleunigung beim Computern wird dann tatsächlich manchmal körperlich. So erlebte ich den Blutsturz des Überschallpiloten bei wilden Abflügen nach dem Durchstoßen einer Art von Sinn- Schallmauer, wenn ich nach langen Anstrengungen einen Algorithmus endlich zuende gebracht hatte und, mit einem Gefühl von Hitze im Fleisch, weitere ein, zwei Stunden codierte Bremsspuren zog und hirnlos vor mich hin programmierte, ohne daß da noch irgendein Problem gewesen wäre. Der bemerkenswerteste Zeit-Effekt beim Programmieren ist mir aber, wahrscheinlich weil er so offensichtlich ist, erst nach zwei Jahren deutlich geworden: daß nämlich das Programmieren die extremste Form von Zeitlupe und Langsamkeit darstellt, die man sich denken kann. Zahllose Rechenschritte, die der Computer oft sekundenschnell bewältigt, müssen in tage- und wochenlanger Fleißarbeit - bei professioneller Software geht es um viele Mann- Jahre - Zeile für Zeile präzis beschrieben und kommentiert werden. Es gibt Schleifen- Anweisungen, durch die man sich endlose Wiederholungen sparen kann, trotzdem aber bleiben die Tage und Nächte, in denen der Programmierer stundenlang daran tüftelt, einen Prozeß um ein paar Mikrosekunden schneller ablaufen zu lassen und nicht bemerkt, wie das Raum-Zeit-Kontinuum, siehe Einstein, um ihn herum schelmisch schlackert.
KURS-PEILUNGEN Die Legende vom Blick. "Im 20. Jahrhundert befinden sich die von Sinneswahrnehmungen bestimmten Werte und Ideen wieder im Niedergang." Fritjof Capra
Da eine meiner Lieblingsregionen am Kontinent der Daten die Computergrafik geworden ist, komme ich noch einmal auf den Blick zurück, der dem Körper vorausläuft. In vielen Sprachen ist bis zum heutigen Tag die Auffassung des steinzeitlichen Jägers lebendig geblieben, nach der Sehen und Handeln eins waren. Die Sprache erzählt immer noch die Legende vom Blick, dem Seh-Speer, den das Auge "wirft". Mag es die altägyptische Auge-Hieroglyphe sein, die für 'handeln', 'tun' steht (nicht zu verwechseln mit dem 'Udjat-Auge' des Horusfalken), oder das deutsche "Ereignis", hergeleitet von einer älteren Form, nach der etwas sich "eräugnet" - die Suggestion geht dahin, daß das Ich es ist, das mit seinem Blick in die Welt hinausstochert und Wahrnehmungen aufscheucht oder geschehen läßt. Nun haben Physik und Medizin diesen Verlauf durch die Feststellung umgekehrt, daß vielmehr etwas ins Auge geworfen wird, nämlich das Licht, an Oberflächen reflektiert, das in der Netzhaut chemoelektrische Signale auslöst. Oder wie Steven Spielberg sagen würde: Das Imperium blickt zurück. Die Signale laufen ins Gehirn und werden dort als Eindrucksfeld interpretiert und durch das Herauslösen von Gestalten dem Bewußtsein als Erscheinungen zugänglich gemacht. Diese naturwissenschaftliche Einsicht ist zwar der Vernunft zugänglich, der Intuition aber ist sie ungeliebt geblieben, handelt es sich dabei doch um eine Defensive - den Rückzug aus dem jahrtausendelang aktiv durchdrungenen, blickdurchworfenen Weiten Raum in die engen Fjorde der Hirnwindungen, an deren Ufern der Geist hockt und sich Anblicke aus den Wellen des Lichts angelt. Vor dem Computer wurde mir aus einem unerklärlich aufsteigenden Wohlempfinden nach einiger Zeit einsichtig, daß eine andere Wissenschaft die Legende vom Blick doch wieder in ihre Rechte gesetzt hat: die Mathematik. Um das zu erläutern, will ich ein wenig ausholen. Auf den Bildern der alten Ägypter werfen Menschen und Dinge keine Schatten, und sie zeigen dem Betrachter ihre Partien von jeweils der Seite, die das Wesentliche offenbart, den Kopf im Profil, die Schulterspanne frontal, das Haus im Grundriß. Uns erscheint diese Darstellungsweise heute sonderbar verdreht, ein Eindruck, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts neuerlich zu gewinnen war aus den Bildern des Kubismus, welcher auf eigene Art versuchte, Objekte von mehreren Seiten gleichzeitig beobachtbar zu machen. Mehr als 4000 Jahre nach der Auge-Hierogylphe fand dann neben dem Blick- Speer, der Waffe, endlich auch die List des neolithischen Jägers eine mächtige visuelle Entsprechung: die perspektivische Projektion. Mit der Perspektive wurde über einem versteckten Netz von Fluchtlinien eine überzeugende Illusion des Weiten Raums aufgestellt, der jeder Blick in die Falle gehen mußte. Damit wurde Raum auch erstmals miniaturisierbar. Die Täuschung, die nun in Gemälden und Zeichnungen virtuos verfeinert wurde, führte zu einem bemerkenswerten Wandel der Moral: Die Lüge der Fläche, ein Raum zu sein, wurde umso begeisterter aufgenommen, je faustdicker und raffinierter sie war. Jedoch, wer andern eine Perspektive zeichnet, fällt selbst hinein. Auf dem fluchtlinierten Weg vom naturalistischen Ölschinken zum elektronischen Hinterglasgemälde des Fernsehbilds sind wir inzwischen soweit gekommen, daß weltweit die Ansicht als belegt gilt, die Erde sei eine Kugel, da man doch die Filmbilder der Raumfahrer mit eigenen Augen sehen konnte - und niemand mehr daran denken mag, daß jedes TV-Bild eine Fläche ist und bleibt, und daß eine Kugel, die auf dem Bildschirm sichtbar wird, auch wenn sie sich noch so nachdrücklich als plastische Kugel ausgibt, doch niemals mehr sein kann als eine Scheibe... Während sich in der Malerei durch Farbgebung und Pinselführung immer auch noch individueller Ausdruck mit in der Perspektive- Falle fing, wurde von anderer Seite bereits an einem von Persönlichem gesäuberten Raum gearbeitet. Für Galileo Galilei standen die Möglichkeiten der Raum-Bereinigung "in jenem großen Buch geschrieben, das stets offen vor unseren Augen liegt; doch können wir sie nicht verstehen, wenn wir nicht zuvor die Sprache und die Schriftzeichen erlernen, mit denen es geschrieben ist. Diese Sprache ist Mathematik, und die Schriftzeichen sind Dreiecke, Kreise und sonstige geometrische Figuren." Mit Rene Descartes analytischer Geometrie - entworfen, um alle physikalischen Phänomene auf genaue mathematische Beziehungen zurückzuführen - waren dann Erscheinungen wie Farbe, Klang, Geschmack oder Geruch endlich als bloß subjektive Projektionen des Geistes aus dem überlisteten Raum ausgeschlossen, Blickasche, Wahrnehmungsmüll, Rauschen. Auch der digitale Datenraum hat sich gewaschen. Geruch und Geschmack bleiben analog. Wer die - immerhin quietschbunten - Computergrafiken betrachtet, die heute als hochkarätig gelten, spürt einerseits eine reizvolle Leichtigkeit, da auf den Bildern zumeist irgendwelche Dinge in der Luft schweben, andererseits eine eisscharfe Faszination von den metallisch hochglänzenden, gläsernen, auf jeden Fall aber makellos sauberen Oberflächen. Wie Rückprojektionen dieser antiseptischen Bilder in die wirkliche Welt erscheinen dazu die hochreinen Räume der Chip- Fabriken, die Clean Rooms, in denen wie Chirurgen vermummte Arbeiter mit geröteten Augen in Mikroskope starren, und in denen der menschliche Körper wieder einmal als Beeinträchtigung vorhanden ist mit seinen Haaren und Hautschuppen, die wie Felsbrocken auf die empfindlichen Mikrostrukturen der Prozessoren fallen können. Die Bühne des Newtonschen Universums, die dann eine Zeit nach Descartes eröffnet wurde, war ein ausge(t)räumter Raum, "der dreidimensionale Raum der Euklidischen Geometrie. Es war ein absoluter Raum, ein leerer Behälter, unabhängig von den physikalischen Phänomenen, die sich in seinem Inneren ereigneten" (Capra). Und endlich flogen wieder Blick-Schäfte durch den Raum: die Pfeile der Vektor-Geometrie. Mit dem Augpunkt als Ausgangsort vektorieller Projektionsstrahlen - und darüber hinaus als eine Art frei positionierbares fliegendes Auge - gewann die Legende vom Blick, von einer exakten Wissenschaft bestärkt, neue Macht. Der Computer ermöglicht es nun, Blickpfeile in einer Dichte und Repetiergeschwindigkeit zu verschießen, die vordem nicht denkbar war. Zu den zahlenfressendsten und interessantesten Werkzeugen in der Computergrafik gehören Strahlenverfolgungs-Algorithmen, sogenannte Ray Tracing-Programme. Sie sind so etwas wie Software- Stalinorgeln für Vektorpfeile. Von einem mathematisch festgelegten Augpunkt aus wird der Bildschirm dabei als Projektionsfläche anvisiert und durch jedes einzelne Bildschirmpixel ein sich rasend schnell nach vorn addierender Pfeil geschossen, der durch einen dahinterliegenden geometrischen Raum fliegt. In diesem Datenraum, einem genau begrenzten euklidischen Mini- Universum, kollidiert der Pfeil mit den Oberflächenpunkten eines ebenfalls mathematisch installierten Szenarios oder mit einer Grenzfläche und meldet jeden Treffer als Farbe zurück, in der dann das im Augenblick durchstoßene Pixel aufleuchtet. Objekte, deren Oberflächen als 'spiegelnd', 'transparent' oder 'rauh' definiert sind, komplizieren die Angelegenheit. Die Schießerei geht so lange, bis alle Pixel - je nach Bildschirm-Auflösung etwa zwischen 60.000 und 1.000.000 - absolviert sind und das Mini- Universum vollständig durchstochert ist. Ich erliege selbst oft der Begeisterung an dieser digitalen Art von Indianerspiel, mit Vektorpfeilen Bilder von seltsamer Schönheit aus einem Raum zu schießen, der dem freien Auge sonst unerreichbar bliebe. Das Machtgefühl, das der Aufbau solcher Mini-Universen verleiht, belegen die Credits der Bilder- Programmierer, die sich mitunter lesen, als wäre ein Lieber-Gott- Team dabei, die Welt in ständig verbesserten Versionen neu zu erschaffen, beispielsweise die Unterzeilen zu einer "Landschaft am Meer" nach einem Regen, die eine Gruppe amerikanischer Spezialisten in George Lucas' Computergrafik-Schmiede "Industrial Light and Magic" (heute "Pixar") konstruiert hat: "Die verschiedenen Elemente des Bildes gestaltete das Team zunächst einzeln, dann kombinierte es sie miteinander. Die einfache Modellierungstechnik nach dem Konzept der Fractalen Geometrie benutzte Loren Carpenter, um die Felsen, die Berge und die Seen zu definieren; ferner schrieb er das Programm zur Ermittlung der verdeckten Flächen und ein "Atmosphären"-Programm für den Himmel und den Dunst. Rob Cook leitete das Projekt, entwarf die Straße, die Hügel, den Zaun und den Regenbogen. Tom Porter stellte die prozedural gezeichnete Textur der Hügel zur Verfügung und schrieb auch die Software zur Kombination der Elemente, um die Bildmontage zu erstellen. Bill Reeves entwarf das Gras mit Hilfe eines selbst entwickelten Systems 'beweglicher Partikel'; er schrieb auch die Modellierungs- Software. David Salesin schuf die gekräuselten Pfützen, Alvy Ray Smith die blühenden Pflanzen."
KARTIERUNG Die drei Hände des Zeichners. "Der Computer (funktioniert) wie der Rohrschach-Test, indem er den Ausdruck von etwas zuläßt, was bereits da ist. Aber er ist noch mehr als ein Medium zum Ausdruck der Persönlichkeit. Er ist ein konstruktives und projektives Medium. Zum Beispiel erlaubt er 'Sanften' (..), in einem Bereich von Maschinen und formalen Systemen zu operieren, der bislang als exklusive kulturelle Domäne der 'Harten' galt." Sherry Turkle
Nachdem ich in den unterschiedlichen Bereichen des Programmierens ein paar Monate lang Erfahrung gesammelt hatte, unternahm ich den Versuch, einen geometrischen Homunkulus zu erschaffen - eine Lichtgestalt unter meiner gütigen Herrschaft. Ich wollte einen Menschen konstruieren, um genauer zu sein: eine möglichst realistische, dreidimensional darstellbare Figur, und auf möglichst naturgemäße Weise bewegen sollte sie sich auch. Die Oberflächen raumtiefer Objekte werden im Computer aus ebenen Vielecken, den Polygonen, zusammengesetzt. Eine Kugel, die nur aus ein paar Dutzend Polygonen aufgebaut ist, sieht eher aus wie ein Kristall. Je mehr und je kleinere Polygone man verwendet, desto detailreicher tritt die Form zutage. Bei unregelmäßigen Körpern steigen damit die Anforderungen an Speichervolumen und Rechenleistung des Computers, und an die Geduld des Programmierers, der zunehmende Mengen von Eckdaten einzugeben hat. Wie konnte ich also einen Menschen in den Rechner kriegen? Ich machte eine Skizze auf einem Blatt Papier, um abzuschätzen, aus wievielen Polygonen der Mensch mindestens zusammengepuzzelt werden mußte, um meinem gestalterischen Anspruch einigermaßen zu genügen. Aus viel zu vielen. Es hätte Wochen gedauert, all die Eckpunkte zu positionieren. Darüber hinaus wurde mir deutlich, daß Formteile und Linienführung am menschlichen Körper, so geläufig oder wohlproportioniert sie dem Auge erscheinen mögen, sich der euklidischen Geometrie zu entziehen versuchten wo es nur ging. Ich ging dazu über, erst einmal übungshalber ein Arm zu konstruieren. Immer noch zu viele Vielecke. Nebenher, ohne mich von meiner Polygonzählerei abhalten zu lassen, dachte ich darüber nach, weshalb es mich nicht ausreichend befriedigte, meinen eigenen, massiv dreidimensionalen, voll durchgeformten, farbechten, mitsamt Porentextur und Härchenflaum hochgradig realistisch vorhandenen Arm zu bewegen, und weshalb ich stattdem von dem unbezähmbaren Drang beseelt war, eine motorische Arm- Simulation im Computer aufzubauen. Ich kam zu keinem Ergebnis und reduzierte meinen Konstruktionsansatz auf eine Hand. Die Hand war zwar, was die Anzahl der Eckpunkte betraf, an einem Nachmittag zu erstellen, dafür tauchten neue Fragen auf. Der Versuch, ein kleines Teil der Natur im Computer nachzubilden - auch wenn es nur ein animiertes Modell aus unendlich dünnen Polygonen sein sollte -, zog nach sich, daß ich mir bis ins Kleinste über die Funktionen des Teils Klarheit verschaffen mußte. Ich studierte eine Stunde lang abwechselnd meine rechte und meine linke Hand und deren Bewegungen, um herauszufinden, welche Drehachsen an jenen Stellen durch die grafische Hand zu legen waren, an denen in der wirklichen Hand die Gelenke sitzen. Ich machte mir bewußt, daß jeder Finger bestimmte Bewegungsfreiheiten hat; man kann einen Finger z.B. nur bis zu einem gewissen Grad nach hinten oder zur Seite biegen. Am nächsten Nachmittag befaßte ich mich in den ersten zwei Stunden mit der Motorik meines rechten Daumens. Anschließend gab ich mich Überlegungen hin, wie man den Muskelzug mathematisch möglichst unaufwendig beschreiben könnte, da ein Finger ja nicht als gerade Linie umklappt, sondern sich seine Glieder unterschiedlich weit krümmen. Ich hatte einen zigarettenschachtelhohen Stapel Papier mit Verlaufsmodellen, Krümmungsfunktionen und Programmieransätzen vollgekritzelt. Anderntags ging ich von der Hand auf einen Finger runter. Es wäre ein schöner Traum gewesen, eine realistisch gezeichnete Hand am Bildschirm zu sehen, die sich langsam zur Faust ballt. Leider hatte ich über Beobachtungen wie Hautdehnung, Verformbarkeit des Muskelfleischs und Faltenbildung den Eindruck gewonnen, daß der dazu nötige Algorithmus an den Aufwand zur Berechnung einer vereinheitlichten Feldtheorie der Naturkräfte heranreichen würde. Ich programmierte so etwas wie einen Finger. Er bestand aus drei als durchsichtige Drahtgitter dargestellte Quaderklötzchen und zwei Drehachsen für die Gelenke. Nach einer Weile krümmten sich die drei Klötzchen zum ersten Mal, ein wenig steif vielleicht, aber ich freute mich. Was ich mir wirklich erarbeitet hatte, war nicht der Drahtfinger, sondern ein profunder Respekt vor der Natur, nicht zuletzt vor meinen eigenen Händen.
RUNba, FoxTRON, POKE'n'Roll Music of the Silicontinent. "In meiner Jugend las ich Modern Electrics, und die neuen Mittel der drahtlosen Kommunikation nahmen meine Jünglingsphantasie gefangen. Nachdem ich meinen ersten Radioapparat zusammengebastelt hatte, war ich hocherfreut, als ich tatsächlich Botschaften von nahe gelegenen Stationen empfing, und ich fuhr fort, mit neuen Geräten und Anschlüssen zu experimentieren, um noch lautere Botschaften von weiter entfernten Sendestationen zu empfangen. Aber ich machte mir nie die Mühe, das Morsealphabet zu lernen oder zu verstehen, was ich da hörte." Lewis Mumford
Viele Menschen stellen sich Computercodes als ein Mysterium vor, kryptischer als Zwölftonmusik, komplizierter als Börsennotierungen und außerdem irgendwie streng logisch, also dem natürlichen Denken völlig zuwiderlaufend. Obwohl in den Aufbaujahren der Computerei die Leute bei IBM großen Wert darauf gelegt haben, die Undurchsichtigkeit des Codes zu optimieren ("Aufwärtskompatibilität"), stimmt diese Vorstellung gegenwärtig leider nicht mehr ganz. Heute braucht auch jemand, der selbst mit einem Computer arbeitet, sofern er bloß fertige Anwendungen benutzen will, keinen Gedanken mehr an's Programmieren zu verschwenden - obwohl es inzwischen einleuchtende Programmiersprachen gibt - und kann über komfortable Betriebssystem-Kommandos oder über Piktogramme am Bildschirm mit dem Mikroprozessor verkehren. Ich sage "leider", denn es stimmt mich manchmal fast ein wenig sentimental, wenn ich beispielsweise eine Diskette formatieren will und nur noch an einem aus der Kopfzeile flippenden Kärtchen "FORMATIEREN" abrufen muß, statt wie früher erst einmal schwungvoll OPEN 1,8,15, "N:GAGA,G1": CLOSE1 einzutippen. Moderne Betriebssysteme, die zunehmend mit grafischen Benutzeroberflächen ausgestattet sind, vereinfachen zweifellos den Umgang mit dem Computer, halten einen Newcomer aber gleichzeitig von einem Verständnis der Maschine ab. Es liegt mir fern zu fordern, daß nun jeder Computerbenutzer auch unbedingt programmieren lernen müsse. Allerdings glaube ich, daß ein User, der eine Programmierphobie pflegt, seinen Computer nutzt wie jemand, der sich ein Auto kauft und dann aber nicht damit fährt, sondern sich bloß ab und zu reinsetzt und glücklich ist, weil er den Motor starten und den Scheibenwischer und das Radio einschalten kann. Ich kann Leute verstehen, die Vorurteile gegen das Programmieren haben. Schon im Alten Testament steht: "Und der Satan stand wider Israel und reizte David, daß er Israel zählen ließe" (1. Chronik, 21). Sprachen, in denen vorwiegend in Zahlen gesprochen wird, erwecken Unbehagen. Abgesehen von den hunderttausend Küssen am Ende von Briefen gehören Zahlen, vor allem große Zahlen, seit jeher zu den Insignien der Macht. Um es wieder an einer Hieroglyphe zu illustrieren: Das höchste Zahl-Zeichen der alten Ägypter, die Million, stellt einen einfachen Mann dar, der kniet und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Die Erfindung des Telegrafen hat zu ihrer Zeit Begeisterung ausgelöst und kein Mensch hat apokalyptische Visionen angesichts des Morse-Alphabets bekommen. Computercodes scheinen vielfach - und nicht unberechtigt - den beklemmenden Eindruck einer Welt zu vermitteln, in der alles und jedes zu einem einheitlichen Ziffernpulver zersprengt und zermahlen wird, atomisiert in monotone Bits. Null und Eins, das ist es, was heute zählt. Man sollte sich immer in der Erinnerung halten, daß ein Computer im Grunde genommen nicht einmal bis Zwei zählen kann, das allerdings rasend schnell. Auch die gefürchtete binäre Logik ist so simpel, daß ich erst dachte, in meinem Handbuch fehlen ein paar Blätter, als die Ausführungen nach zwei Seiten zuende waren. Mit den Verfahren, die etwa bei der Konstruktion raffinierter Grafiken helfen, ist es schon schwieriger. Ich bin alles andere als ein begnadeter Mathematiker und stehe wie vor einem Gebirge, wenn ich eine Formel vor mir habe, die ein bißchen komplizierter ist als der Satz des Pythagoras. Weder meine Gefühle noch meine Gedanken finden rechten Halt daran, und ich habe das Gefühl, in einer präzisen und gleichzeitig unfaßbaren Gegenwart eingeschlossen zu sein. Es ist die Mathematik, die Sprache ohne Dinge, die in vielen Menschen dieses Gefühl von Verstörung weckt - eine Sprache, die keine Mythen kennt und keine Geschichten erzählt. Für McLuhan ist die Sprache eine Ausweitung des Gesichtssinns, die Zahl eine Ausweitung des Tastsinns. Demgemäß hilft mir der Computer, einen Mangel an Tastempfinden zu beheben, indem er mich die Dinge, die ich nicht begreifen kann eben besehen läßt. Mir ist in der Schule nie so richtig klargeworden, was es beim Kreis mit dem Sinus und dem Cosinus auf sich hat, obwohl ich damit bei Klassenarbeiten ordnungsgemäß operieren konnte. Erst Jahre später am Computer, wo ich an der Kreisformel wie an einem Stück Geistesgummi drücken und quetschen und mir immer wieder auf den Bildschirm zeichnen lassen konnte, was sich dadurch veränderte, ging mir nach einer Weile der Knopf auf. Wenn ein ausgebildeter Mathematiker mir beim Programmieren zusehen könnte, würde es ihm wahrscheinlich manchmal die Schuhe ausziehen. Wie viele ambitionierte Computerfreaks, so bin auch ich ein Mathemusiker. Ich genieße es als einen Zugewinn an Selbstbewußtsein und kreativem Vergnügen, in kniffligen Formeln, die Zahlentheoretiker sich in langer, staubtrockener Denkarbeit abgerungen haben, unbekümmert herumzukneten und Funktionen und Werte umzukomponieren, bis sie in der grafischen Darstellung sehenswerte Ergebnisse liefern. Wenn ich in einem Buch oder einer Zeitschrift eine schöne Formel gefunden habe, freue ich mich wie über ein neues, wohlklingendes Instrument, auf dem ich Musik für die Augen spielen kann. Eine Programmiersprache ist, um im Bild zu bleiben, etwas wie ein Orchester-Baukasten, aus dem man sich von der kleinen Kursaal-Combo bis zum bombastischen Silicon Symphonic Orchestra jede Art von Datenklangkörper zusammenstellen kann. Computerbenutzer fühlen sich meist einem Indianerstamm zugehörig, der die jeweils eigene Rechnermarke als Totem verehrt. Anderen Systemen gegenüber befindet man sich gewöhnlich auf dem Kriegspfad (A:\Kriegs). Daß trotzdem viele Programmiersprachen auf unterschiedlichen Marken gleichermaßen Verwendung finden, zeigt wieder einmal die über soziale Grenzen hinaus verbindende Wirkung der Muse: Wo gerechnet wird, da mach dir's ruhig bequem, böse Menschen haben kein PC-System. Programmiersprachen wären also die Volksmusik der Datenländler, allerdings gibt es auch da regionale Variablen und Eigenarten. So ist mir nach langen Beobachtungen deutlich geworden, daß sich zwischen der jeweils von Usern bevorzugten Programmiersprache und ihrer Vorliebe für bestimmte Musikrichtungen in der wirklichen Welt Verbindungen herstellen lassen. In BASIC (Beginners All Symbolic Instruction Code) singen sie ihre Kinderlieder. Alle meine ENDchen Schwimmen in dem $tring Sie sollten zwar was andres tun Nur krieg ich's noch nicht hing. Leise Melancholie streift mich, wenn ich an den Verlust meiner Programmiererunschuld denke, als ich versuchte, ein selbst verfaßtes BASIC- Programm, das ich schon ein paar Wochen nicht mehr betrachtet hatte und in dem es zuging wie auf einem codegewordenen Kindergeburtstag, in einen strukturierten Dialekt zu übertragen. Zwei Tage lang hüpfte ich mit bunten Filzstiftstrichen dutzenden von GOTO-Absprüngen hinter und ver- suchte mich verzweifelt daran zu erinnern, was ich mit diesem oder jenem Variablennamen ("N=FF*PF-QT") wohl gemeint haben könnte. LOGO lasse ich weg, weil LOGO auf einem Mißverständnis basiert. In LOGO codieren nur Neulinge über 35, die irgendwo gehört haben, daß das eine Programmiersprache für Kinder ist und deshalb glauben, sie würden da auf jeden Fall durchsteigen. FORTRAN (Formula Translation Language) ist etwas für anständige Bürger - solide, borniert und langweilig wie deutscher Schlager, im besten Fall spröde kompliziert wie das dritte Brandenburgische Konzert von Bach, das sich in meinen Ohren anhört, als würde eine Drehorgel in Zeitlupe über eine Kellertreppe kollern. Man kann in FORTRAN Filmkameras in Jupitersonden steuern, Atombombensimulationen abwickeln und Großrechenanlagen kleinrechnen, mit einem Wort: FORTRAN ist kein bißchen hip. COBOL (Commercial and Business Oriented Language) ist fast noch schlimmer. Wie Marschmusik. Code in ASSEMBLER ist extrem maschinennahe und liest sich wie ein Gitarrenstück für John McLaughlin, das ein Astrophysiker geschrieben hat - karg, superfrickelig, irgendwie witzig und konsequent unverständlich; Tempo: Fortissimo. Dazu in musikalischer Relation auch: Burundi-Beat (Tam Tam Tom Tom), Hardcore Punk (Vollgas) oder Mozart, auf einem alten Plattenspieler mit 78'er Umdrehungsgeschwindigkeit abgespielt. Darunter gibt es nur noch die MASCHINENSPRACHE, Prozessor- Klartext. MASCHINENSPRACHE ist haarsträubend ziseliert wie Flamenco von Manitas de Plata, pur und direkt wie eine Tremolo- Etüde a la "Riqerdos de l'Alhambras". Leute, die zum ersten Mal die Bitmuster in Form endloser hexadezimaler Kolonnen - aus 16 Zeichen von 0-9 und von A-F - sehen, mutmaßen gewöhnlich, es handle sich um eine Systemstörung oder die Kubikwurzel aus Schillers "Lied von der Glocke". Angeblich soll es MASCHINENSPRACHE-Freaks geben, die ab und zu ihren Rechner aufschrauben und versuchen, mit einem Mikroskop und dieser Art Besteck, das normalerweise Augenchirurgen verwenden, die Bits von Hand im Prozessor herumzuschieben. C (entwickelt aus einer Programmiersprache namens B) ist etwas Feines. C- Programmierer hören gewöhnlich gute, elegante Popmusik, die mindestens so sophisticated ist wie ihr Code. In C lassen sich mit etwas Talent virtuos Algorithmen programmieren, die rappen und hiphoppen, swingen und klingen. Manche C-Compiler, wenn sie richtig in Stimmung kommen, sind so gut drauf, daß sie sogar falsche Fehlermeldungen ausgeben - Main() wie es singt und lacht, wie Häuptling C-ting Bull sagen würde. Die Möglichkeiten, mit Kürzeln, Kompressionen und Kommando-Umbenennungen ein vollkommen individuelles Programmdesign an den Tag legen zu können, wird von vielen stilbewußten C- Programmierern wahrgenommen und kann - wie es immer bei radikalem Chic der Fall ist - zu Unverständnis von nichtsensibler Seite führen, das heißt, von Leuten, für die C-Code aussieht, als habe jemand ein eingerolltes Gürteltier ein bißchen auf der Tastatur gewälzt, um zu sehen, was für Zeichenkombinationen dadurch am Bildschirm ausgegeben werden. C sehr ähnlich ist PASCAL (nach dem Mathematiker Blaise Pascal, 1623-1662), vielleicht ein wenig discomäßiger, und mit einer die ungestüme Kreativität bremsenden Neigung zum Aufgeräumten. PASCAL, außerdem noch MODULO-2, wurden von Nikolaus Wirth entwickelt, der sich bei einigen Programmierern unbeliebt gemacht hat durch die Erfindung der "strukturierten Codierung", derzufolge Computerprogramme in einer nicht nur für den Programmierer, sondern auch für andere Menschen lesbaren Form abgefaßt werden müssen. Das führt bisweilen zur Beeinträchtigung des programmierereigenen Autonomiegefühls und degradiert ihn, sofern er beruflich programmiert, zu einem banal kündbaren Menschen, da sein Programm dann auch von jemand anderem als ihm gewartet werden kann. "Wenn harte Programmierer zum erstenmal auf das Konzept der 'strukturierten Programmierung' stoßen, bei der verschachtelte Unterprogramme verwendet werden, um Hauptprogrammen mehr Transparenz zu verleihen, sind sie begeistert. Sie haben ein Werkzeug gefunden, das ihren Bedürfnissen entgegenkommt. Die sanften Programmierer zeigen in dieser Hinsicht mehr Widerstand. Sie nutzen das strukturierte Programmieren als Technik, wenn es sein muß, aber sie mögen es nicht. Es ist eine Technik, die die Unmittelbarkeit ihrer Beziehung zum Computer beeinträchtigt" (Turkle). LISP ist eine Sprache aus dem Bereich der sogenannten "Künstlichen Intelligenz" (KI), in der, musikalisch gesagt, der Versuch unternommen wird, Tschaikowskis 1. Klavierkonzert auf einer Bongotrommel nachzuspielen; dem selben Unterfangen versucht auch PROLOG entgegenzukommen. Wobei es mich immer wieder verblüfft, daß Abschnitte aus KI-Programmen durch maßlose Schachtelung von Klammern wie Fischgräten aussehen - where's the meat? FORTH sollte eigentlich FOURTH heißen, Programmiersprache der vierten Generation, aber das Betriebssystem der Maschine, auf der FORTH entwickelt wurde, ließ nur Dateinamen mit maximal fünf Zeichen zu. FORTH ist Freejazz - schräg, auf kulturell wertvolle Weise quälend und sowohl schnell, als auch - nachgesetzte polnische Notation bei mathematischen Operanden! - mit einem Hauch slawischer Schwermut versetzt. Mitglieder im FORTH- Indianerstamm sind charakterlich meist ebenso kompliziert wie ihre Programme und lieben die Natur, speziell Binärbäume. Das jüngste Produkt gehobener digitaler Ausdrucksweisen ist OCCAM. Benannt wurde die Sprache nach Wilhelm von Occam (1290- 1349), einem englischen Philosphen, der unnötige Allgemeinbegriffe bekämpfte ("Occams Rasiermesser"). Als Vorwärtsverweis auf Kapitel 10, in dem es um Computer und Magie geht, möchte ich darauf hinweisen, daß eine auffällige Klangverwandtschaft zwischen OCCAM und dem Ogham-Alphabet besteht, das seinen Namen nach Ogamus trägt, dem gallischen Gott der Sprache. Vom Ogamus-Alphabet glauben einige Okkultisten, daß es die Grundlage der Schriftsprache von Atlantis war. In OCCAM programmiert man Transputer - Rechner, in denen nicht wie bisher ein einzelner Mikroprozessor Schritt für Schritt die ganze Arbeit leistet, sondern mehrere Prozessoren nebeneinander. Im derzeit leistungsfähigsten Transputer, der von Daniel W. Hillis gebauten Connection Machine, sind mehr als 65.500 Prozessoren zu einem dicht vernetzten, ultraschnellen Rechengeflecht verbunden. Während konventionelle stand-alone- Prozessoren eher eine flinke Ein-Mann- Band darstellen, machen OCCAM und die Transputer-Bausteine das Bild vom Daten- Orchester realistischer. Das Interessante an der Sache ist, daß eigentlich noch niemand (außer Herbert von Karajan) so genau weiß, wie man komplexe, parallel ablaufende Prozesse programmiert. Die Potenz von Parallelrechnern auszunutzen, indem man etwa herkömmliche Wiederholungs-Abläufe in OCCAM-Sequenzen aufteilt, die nicht nacheinander, sondern auf den verschiedenen Transputer-Einheiten gleichzeitig abgearbeitet werden, ist ziemlich simpel. Wilder wird es, wenn vielfältige Verzweigungen stattfinden und keiner mehr so recht überblicken kann, was da in der Maschine wann und weshalb gerade gleichzeitig ausgelöst und mit anderen Vorgängen in Beziehung gesetzt wird. OCCAM-Programmierer sind förmlich dazu gezwungen, einen Kultursprung durchzuführen: sie müssen - falls das menschenmöglich ist - lernen, parallel zu denken. 7000 Jahre Schrift, Zeichen für Zeichen aufgereiht auf einem Zeilenfaden, haben die lineare Abfolge von Buchstaben, Begriffen und Gedanken in unserem Kopf geprägt. Es wird spannend werden, zu beobachten oder mit auszuprobieren, zu welchen Ergebnisse der Versuch führt, polyphone Verläufe - wie wir sie etwa von Orchesterpartituren oder rthytmusgebundenen Improvisationen kennen - in maschinengerechter Weise zu formulieren und vielleicht sogar zu einer Grundlage rationalen Denkens zu machen.
DIE GRAMMATIK DER ALGORIGINES Kunstsprachen im Datenland. "Die Datenverarbeitung hat noch nicht ihren Galilei oder Newton, ihren Bach, Beethoven, Shakespeare oder Moliere gehabt." Alan Kay "Wie Dichter und Künstler haben die Programmierer sich der Entwicklung von Werkzeugen und Techniken verschrieben." Marvin Minsky
Seit einem Jahr steht auf der Diskettenstation neben meinem Rechner eine kleine Mumie aus Steingut, deren Gestalt ungefähr 3600 Jahre alt ist. Es ist die Nachbildung einer Grabbeigabe für Iwi, einen Priester des Amun, aus der Zeit nach dem Ende des altägyptischen Mittleren Reichs. Die Haarmasse unter dem stilisierten Kopftuch wirkt ausladend wie ein Raumfahrerhelm, das Gesicht glänzt goldbemalt und in edler Ruhe, und die Bartperücke weist vom Kinn abwärts wie ein Zeiger auf eine Kolumne türkis gefärbter Hieroglyphen, die von der Brust bis zu den Füßen der Figur eingeritzt sind. Die Statuette habe ich erstens auf die Diskettenstation gestellt als ein Mahnmal, das mich zur Arbeit rufen soll. Seit zwei Jahren bereite ich einen Roman vor, in dem viel vom alten Ägypten die Rede sein wird; allerdings neige ich, seit ich einen Computer habe, zu Absprüngen in die unterschiedlichsten anderen Interessensgebiete. Wenn ich nicht mehr dichten mag, brauche ich nicht vom Schreibtisch wegzugehen. Ich starte ein anderes Programm und habe im Handumdrehen ein Musikinstrument vor mir stehen, ein Zeichengerät oder ein frei programmierbares Irgendwas, einen Abenteuerapparat. Zweitens ist die Statuette da, damit das Älteste und das Neueste als ein Anblick beieinandersteht - die Mikroprozessor-Technik und, wie Mumford die ägyptischen Grabbeigaben beschrieben hat, "die miniaturisierte Ausrüstung für die Himmelfahrt"; ein Denkstein also. Bei der Figur handelt es sich um ein "Uschebti", was soviel bedeutet wie "einer, der Antwort gibt"; mein Uschebti heißt, seit ich mich einmal versprochen habe, Usche-Bit. Man hat in vielen ägyptischen Gräbern solche kleinen Figuren aus Holz, Ton oder Stein gefunden. Die Zeitgenossen der Pharaonen stellten sich den Tod vor als Reise in ein "Land im Westen", in dem wie in der diesseitigen Welt auch gearbeitet werden mußte. Da die alten Ägypter praktisch veranlagt waren, wurden die Uschebtis als Stellvertreter angefertigt, die mit magischen Mitteln handzuhaben waren und bei Bedarf für den Grabherrn die anfallende Arbeit verrichteten. Nach meinem Wissen erscheint hier zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Idee des Roboters. Da ich in der Zwischenzeit angefangen hatte, die altägyptische Schrift zu lernen, wandte ich mein Interesse den Eintragungen an der Vorderseite der Figur zu. Wer sich einmal mit Programmiersprachen wie C oder APL befaßt hat, dem bereiten Hieroglyphen keine größeren Probleme mehr. Mein Usche-Bit ist mit einem Kapitel aus dem Totenbuch beschriftet, dem "Aufruf der magischen Puppen". Den Vergleich mit einem Roboter hatte ich noch als einfache Analogie abgetan. Von der Übersetzung des "Aufrufs", der nicht nur in der peniblen Reihung der Anweisungen einem modernen Automatenprogramm gleichkommt, war ich frappiert: Magische Puppe, hör mich an! Bin ich gerufen, Bin ich verurteilt die Arbeit auszuführen, Welche im Jenseits die Toten verrichten, Wisse denn Du, oh magische Puppe, Da du die Werkzeuge hast; In deiner Not gehorche dem Toten! Wisse, du bist an meiner Statt Von den Duat-Hütern verurteilt: Zu besäen die Felder, Zu füllen mit Wasser die Kanäle, Den Sand herüber zu schaffen Von Osten nach Westen... Am Ende erwidert die magische Puppe: Hier bin ich und horche deinen Befehlen. Heute heißt das "dialogorientierte Benutzerführung" und es steht bloß etwas prosaischer ein Betriebssystem-Prompt am Bildschirm, oder schlicht READY. Mir war aufgefallen, daß die meisten Programmierer, mit denen ich mich in der Zwischenzeit angefreundet hatte, sehr ähnliche Lebens- und Arbeitsgewohnheiten zu haben schienen wie ich, der Schriftsteller. "Hacker werden von einem intensiven Bedürfnis gedrängt, ihr Medium zu beherrschen, perfekt zu beherrschen", schreibt Sherry Turkle. "In dieser Hinsicht gleichen sie dem Konzertpianisten oder dem Bildhauer, der von seinem Material besessen ist. Auch Hacker werden von ihrem Medium 'heimgesucht'. Sie liefern sich ihm aus und betrachten es als das Komplizierteste, das Plastischste, das am schwersten Faßbare, als größte Herausforderung ihres Lebens." Bei Vergleichen zwischen "literarischen" Sprachen und Programmiersprachen - beides artifizielle Konstrukte - machte ich weitere bemerkenswerte Beobachtungen. Programmiersprachen weisen Übereinstimmungen mit archaischen Jargons auf, die ich statt als "literarische" vielleicht genauer als "poetische" oder "zeremonielle" Sprachen bezeichnen sollte. Eine zeremonielle Sprache, wie etwa das Pathos, "funktioniert" nur unter bestimmten Bedingungen oder in speziellen Situationen, am Beispiel: wenn Sprecher und Zuhörer in feierlicher Stimmung sind, andernfalls wirkt Pathos lächerlich. Bei den Kennzeichen der archaischen Jargons, die denen der Programmiersprachen ähneln, handelt es sich zum Teil um Merkmale vorliterarischer Sprachen, von denen manche noch heute ausschließlich mündlich überliefert werden. Die Tatsache, daß programmgesteuerte Computer gegenwärtig weltumspannende technische, wirtschaftliche oder militärische Komplexe bilden, täuscht leicht darüber hinweg, wie schlicht oder vorsintflutlich die Mittel und Methoden zum Teil sind, die ihnen zugrunde liegen. "Die meisten gegenwärtig verfügbaren Computerprogramme", so Joseph Weizenbaum, "vor allem die umfangreichsten und wichtigsten unter ihnen, sind nicht ausreichend theoretisch fundiert. Sie sind heuristisch, und zwar nicht unbedingt in dem Sinne, daß sie sich in ihrem Inneren heuristischer Methoden bedienen, sondern daß ihre Bauweise Faustregeln folgt, Strategemen, die unter den meisten vorhersehbaren Umständen zu 'funktionieren' scheinen, und auf anderen Ad-Hoc-Mechanismen beruht, die von Zeit zu Zeit zusätzlich eingebaut werden. Fast alle großen Computerprogramme, die Tag für Tag in der Industrie, der Administration und den Universitäten zum Einsatz kommen, gehören dazu." "Diese gigantischen Computersysteme sind in der Regel von Programmiererteams zusammengestoppelt worden (man kann wohl kaum sagen: konstruiert), deren Arbeit sich oft über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckt. Wenn das System dann endlich gebrauchsfertig ist, haben die meisten der ursprünglichen Programmierer gekündigt oder ihr Interesse anderen Projekten zugewandt, so daß, wenn diese gigantischen Systeme schließlich benutzt werden, ihr innerer Ablauf von einem einzelnen oder einem kleinen Team nicht mehr verstanden werden kann." Mit der für die Mikroelektronik typischen Geschwindigkeit entstehen so in kürzester Zeit Mythen in Gestalt von Computerprogrammen, Er-Zählungen, deren Effekte jedermann berühren - etwa in Form einer verrückten Telefonrechnung durch Computerirrtum - und deren Ursprünge von niemandem mehr erklärt werden können. Wie es sich für Mythen gehört, ist es bei großen Programmen nicht mehr ein Erzähler, der den Text erstellt, sondern es sind viele Autoren, die einander in der Arbeit am Text ergänzen oder abwechseln. Auch die Anwender von Programmen arbeiten an der Formung des Textes mit, indem sie frühzeitig vertriebene Programmversionen (sogenannte "Bananen-Software", die grün ausgeliefert wird und erst beim Benutzer reift) durch an die Entwickler gerichtete Beschwerden, Hinweise und Vorschläge ausschmücken helfen. Um es noch einmal anders auszudrücken: Begriffe wie "modernste Hochtechnologie" verstellen den Blick darauf, daß wir uns, auf jeden Fall was Computer angeht, in einer Vorzeit befinden: im Übergang von der Eisenzeit (ab ca. 1200 v. Chr.) in die Siliziumzeit (ab ca. 1964, mit der Herstellung der ersten mikroelektronischen Halbleiter-Schaltungen). Auch die Elemente der Programmiersprachen als moderner Zeremonialsprachen weisen auf die Eigenarten digitalen Frühmenschentums hin. Es ist kein Zufall, daß die Schrift in ältester Zeit nicht dazu diente, Ideen religiöser oder anderer Art zu vermitteln, sondern um im Tempel Aufzeichnungen über Vorräte und Verteilung von Getreide, Vieh, Töpferwaren und anderen Produkten zu führen, und daß diese Merkmale nun an jenen modernen künstlichen Sprachen neuerlich zutage treten, mit denen versucht wird, die Realitäten des gerade entdeckten Datenlands zu konstituieren. Neben dem Zählen bestand eine wichtige Funktion archaischer Jargons darin, bei der gemeinsamen Jagd und auf Kriegszügen die Übermittlung effizienter Befehle zu ermöglichen, was sich - nicht zuletzt, da Computer ursprünglich aus militärischen Erwägungen entwickelt wurden - in den Programmiersprachen als Abfolgen zahlenflankierter Imperative und variabler Parolen spiegelt. Ob es nun ein Problem ist, das in Angriff genommen wird, oder ein leibhaftiger Gegner - die Offensivgeschwindigkeit reduziert den Ausdruck. Von dem zivilen Ausruf ("Sieh nur, dort drüben!") geht die Verknappung über den nennförmigen Telegrammstil ("nach drüben sehen stop") und das militärische Kommando ("Augen rechts!") zum Programmbefehl ("Turn_Camera = 45"). Subtilere Stilformen halten der Geschwindigkeit (noch, wie ich hoffe) nicht stand und - um wieder mit dem Feuer zu sprechen, das seit der Vorzeit auch im Bewußtsein des Menschen brennt - sie verlöschen im Fahrtwind der Technologie. Ihrer Seelenwärme stehen die vermeintlichen Erfordernisse des Kriegs gegenüber, in der die Maschine Flammen speien soll wie ein dressierter Drache: "Feuer frei!". Allerälteste Sprachfiguren wiederholen sich in den zeitgenössischen Programmiersprachen: "Die Magie selbst bewahrte lange Zeit ein noch primitiveres Merkmal der Sprache, das aus dem Ritual stammte: Ein Großteil aller magischen Formeln besteht aus einer präzisen Aneinanderreihung sinnloser Silben, die bis zum Überfluß wiederholt werden" (Mumford). Falls in 2000 Jahren ein Archäologe meine ersten BASIC-Programme finden sollte, wird ihn das wahrscheinlich noch mehr Kopfzerbrechen kosten als mich selbst. Wie gesagt sind in den Programmiersprachen die 'Wiederholungen bis zum Überfluß' verkürzt respektive verdichtet worden zu Schleifen-Befehlen. Wem der epische Zeilenfall längerer Algorithmen in einer höheren Programmiersprache noch nicht ins Auge gesprungen sein sollte, der wird spätestens, wenn der die LOOPs, FOR-NEXT- und DO-WHILE-Schleifen als Refrains erkannt hat, die Nähe zu den uralten Formen des Langgedichts spüren. Auch die mächtigen "reservierten Worte" der Codes decken sich mit Bedeutungspotenzen der klassischen Lyrik, wo beispielsweise ein Begriff wie "Rose" nicht einfach für eine rote Blume steht, sondern einen ganzen Dschungel von Interpretationsmöglichkeiten um sich hat. Mumford mahnt: "Etwas für die Kreativität des Menschen, auch in der Wissenschaft, Wesentliches könnte verschwinden, wenn die nach wie vor metaphorische Sprache der Dichtung völlig der denaturierten Sprache des Computers weichen müßte." Als Programmierer, dessen Talente dazu nicht ausreichen, als Schriftsteller und nicht zuletzt einfach als Mensch möchte ich auf diesem Weg alle, die mit dem Gedanken spielen, einen Mikroprozessor oder eine Programmiersprache zu entwickeln oder zu modifizieren, dazu einladen, einen freundlichen Geist in die Maschine zu pflanzen.
AM TISCH EIN STRAUSS FILE'CHEN Leben und Arbeiten im Datenblockhaus "Beim Computer sind dem Flirt mit der Niederlage bei dem Versuch, 'es zu schaffen', keine Grenzen gesetzt. Es gibt keine Grenzen für das Maß an Gewalt, das dem Versuch innewohnt. Über den Computer siegen, heißt siegen." Sherry Turkle
"Ihre verknautschten Anzüge, ihre ungewaschenen und unrasierten Gesichter und ihr ungekämmtes Haar bezeugen, wie sehr sie ihren Körper vernachlässigen und die Welt um sich herum vergessen. Zumindest solange sie derart gefangen sind, existieren sie nur durch und für den Computer. Das sind Computerfetischisten, zwanghafte Programmierer. Sie sind ein internationales Phänomen." Nachdem ich diese Beschreibung in Weizenbaums Buch (s. Quellen) gelesen hatte, schaute ich halb erschrocken, halb stolz in die Spiegelwand am Ende meines Arbeitszimmers. Ich war zwar frisiert, aber ich hatte die ganze Nacht, statt zu schlafen, an einem Algorithmus getüftelt, der alle Kombinationsmöglichkeiten der Buchstaben eines eingegebenen Worts durchspielt, abzüglich jener Kombinationen, die enstprechend einer Liste von Regeln der Wortbildung im Deutschen sinnlos sind; es sollte ein kleines Werkzeug werden, das mir beim Dichten hilft, ein Anagramm-Generator. Ich hatte mich eine Weile in dem Gefühl tiefer Zufriedenheit gesonnt, das die erfolgreiche Formulierung einer Idee in einer Programmiersprache nach sich zieht und danach wieder einmal ein wenig in Weizenbaums Buch geblättert. Zum Anagrammieren hatte ich keine Lust mehr - ich hatte schon gedichtet, indem ich das Programm geschrieben hatte. Mir kam wieder Das Gesetz in den Sinn - PRIL, mein Private Law -, das ich mir ein paar Wochen, nachdem der erste Computer gekauft war, selbst auferlegt hatte: Vor dieser Maschine bist du der Wissenschaftler und die Laborratte in einem. Beobachte, auch was dir nicht gefällt, mit offenen Augen. Finde heraus, ob diese Maschine dich verändert, dein Denken, deine Gefühle, dein Verhalten. Wenn ja: Versuche zu erkennen, was geschieht und beschreibe es. Du gehörst zu der Generation, die aufgerufen ist herauszufinden, was es mit diesen Maschinen auf sich hat. Das kannte ich schon: Wenn mir das PRIL einfiel, war das ein sicheres Zeichen dafür, daß etwa Ungefälliges zur Erkenntnis anlag. Diesmal war es die Einsicht, daß die Programmierwut nicht nach einer einmaligen, monatelangen Hochtechnologie- Hochgefühlsphase ausklingt, sondern in Zyklen wiederkehrt, für deren Takt ich mich mal interessieren sollte. Außerdem mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß durch das Programmieren bisweilen das Mittel zum Zweck wird. Es beginnt mit einer Idee - zum Beispiel, als Kapitelüberschriften für eine Erzählung, in der Computer eine Rolle spielen, nach hübschen Anagrammen des Worts "Information" zu suchen -, die zu dem Bedürfnis führt, die lästige Kombinationsarbeit von der Maschine ausführen zu lassen und nur noch die Ergebnisse zu bewerten und auszuwählen. Es setzt sich fort in einer kämpferischen Begegnung mit den Formelsätzen der algebraischen Kombinatorik und verschiedenen Versuchen, dieselben zuzüglich eines Filters für unerlaubte Wortbildungen in algorithmischer Form auszudrücken. Nebenbei permutierte ich dann eine vierstellige Zahlenreihe - 1,2,3,4 - von Hand und entdeckte ein Prinzip: wenn man nämlich die Reihe nicht als Reihe, sondern als Zahl - also 1234 - liest, braucht man bloß immer die nächsthöhere Zahl anzusetzen, die sich aus den vier Ziffern bilden läßt, und schon kombiniert es sich elegant bis zum Ende. Da ein Computer keine Ahnung davon hat, was eine nächsthöhere Zahl ist, stellte sich das Problem, ihm das anhand der verfügbaren Anweisungen zu verklickern. Um mich zu inspirieren, starrte ich längere Zeit auf die Handpermutation auf meinem Zettel und entdeckte dabei ein bezauberndes Muster in der Ziffernfolge, worauf ich mit Farbstiften die unterschiedlichen Kolumnenplätze der einzelnen Ziffern durch die Kolonne hindurch miteinander verband. Das ergab, als ich den Zettel danach querlegte, eine Art Diagramm und brachte mich auf die Idee, ein Programm zu schreiben, das solche bemerkenswerten Muster in Permutationskolonnen ortet und auf den Bildschirm zeichnet. Undsoweiter. Wer keinen Computer hat, dem bleibt schlichtweg verschlossen, wie viele reizvolle kleine Probleme es eigentlich gibt. Der Blick in den Spiegel hatte mir wieder klargemacht, daß mich die Maschine, die nun seit ein paar Jahren wie ein gezähmtes Alien auf meinem Schreibtisch hockte, sehr wohl verändert hatte. Als ich ein Jahr nach der ersten Rechneranschaffung umgezogen war, hatte ich mir als erstes einen neuen Schreibtisch gebaut, mit einem Loch in der Platte, in das die dicke Computertastatur eingelassen wurde. Um dieses zentrale Möbel herum richtete ich den Rest der Wohnung ein. Ein weiteres Jahr später, als ich schon glaubte, ein ausgekochter User zu sein, weihte mich einer meiner Freunde in die Geheimnisse der Datenfernübertragung ein. Meine anschließenden Telefonrechnungen waren ein bißchen niedriger als der Verteidigungshaushalt der Bundesrepublik. Den nächsten Schock erlebte ich in einer Runde von Bekannten, von denen niemand etwas mit Computern zu tun hat. Wir unterhielten uns blendend und dann fiel mir etwas Lustiges ein, das ich gleich erzählen wollte, nämlich wie mir ein Bekannter eine völlig haarsträubende Idee zur Programmierung des DMA-Ports auseinandergesetzt hatte. Erst in letzter Sekunde hielt ich mich zurück, da mir bewußt geworden war, daß keiner der Anwesenden darüber lachen können würde. Daß auch mein Humor schon so tiefgreifend rechnerbefallen war, entsetzte mich ein wenig. Einen bedenklichen Appeal des Computers macht seine Verheißung aus, ein grenzenlos williger Partner zu sein. Die Maschine läßt sich einschalten wann immer man will, sie läßt sich abschalten wann immer sie nervt, sie nörgelt, meckert und kritisiert nie und sie ist anpassungsfähig wie ein Chamäleon. So war es zum Beispiel überhaupt kein Problem, die Unordnung auf meinem Schreibtisch in Form chaotischer Dateiverzeichnisse harmonisch auf den Rechner zu übertragen. Ebenso hilft mir der Computer dabei, mich weiterhin in tausenderlei Sächelchen zu verzetteln beziehungsweise zu verdisken. Das uferlose Entgegenkommen der Maschine fördert auch gewisse Haltlosigkeiten, die ich an mir ohnehin nicht besonders schätze. So verwende ich manchmal beim Schreiben, wenn ich gerade dabei bin, eine Story in Schuß zu bringen, die einzige Droge, die bei mir richtig knallt: Schlafentzug. Ich verfluche es, weil ich nach einer durchgekurbelten Nacht drei Tage brauche, um mich wieder zu erholen, aber ich kann's nicht lassen. Ab einem bestimmten Moment verwandelt sich in den langen Nächten die Müdigkeit in eine Leichtigkeit und ich gerate in jene Verfassung, die man so schön "traumwandlerische Sicherheit" nennt. Während ich auf diese Weise, oft noch unter Termindruck, äußerst produktiv schreiben kann, entwickle ich in den Zigarettenpausen meist die besten Ideen für Computerprogramme und würde nichts lieber tun als programmieren anstatt Liebesgeschichten zu schreiben, oder Erzählungen von einsamen Männern, die in einsamen Zimmern sitzen und ein einsames Brötchen essen. Wenn die Sache dann zuende geschrieben ist und ich mich etwas ausgeruht habe, belohne ich mich, um wieder jenes köstliche Gefühl von Freiheit zu kosten, das "#define"-Anweisungen auf der Zunge hinterlassen, mit einem ausgiebigen Ausritt in die C-Compiler Countryside, wo mir der Wind vom Kühlventilator der Festplatte herrlich ins Haar fährt und if((ch=InChar())==X4||ch==X0) noch if((ch=InChar())==X4||ch==X0) ist. Ein solcher Ausritt führt dann mit ziemlicher Sicherheit dazu, daß ich wieder eine Nacht durchmache. Und wenn es meine Zeit erlaubt, noch ein Weilchen weiter zu programmieren, dehnt sich mein Lebensrhythmus, wie ich festgestellt habe, in den folgenden Tagen über die gewöhnliche 24-Stunden-Periode aus zu einem einem 32- Stunden-Tag, in dem ich 22 Stunden tätig bin und 10 Stunden schlafe - wahrscheinlich, weil 32 eine der exponierten Zahlen im Binärsystem ist.
DAS MAGISCHE MEDIUM "Es gibt in jedem großen Börsenmaklerbüro einen modernen Medizinmann, der unter dem Namen 'Mr. Odd Lots' bekannt ist. Es ist seine magische Funktion, täglich die Käufe und Verkäufe von kleinen Kunden an den großen Börsen zu studieren. Lange Erfahrung hat gezeigt, daß diese kleinen Kunden in achtzig Prozent der Fälle das Falsche tun. Eine statistische Fehlerkurve des kleinen Mannes ermöglicht es den großen Börsenspekulanten, zu ungefähr achtzig Prozent das Richtige zu tun. So kommt aus Fehlern die Wahrheit und aus Armut Reichtum, dank der Zahlen. Das ist die moderne Magie der Zahlen." Marshal McLuhan "In Howards Augen hängt der Kontakt mit der Wahrnehmung der Grenzen der Maschine zusammen - und diese Grenzen will er ja gerade mit Hilfe des Programmierens überschreiten. Programmieren als Magie bedeutet Programmieren als Transformation." Sherry Turkle
Unterstützt durch das Usche-Bit auf meiner Diskettenstation wurde mir nach einer Zeit offenbar, daß ein Computersystem auf einem Schreibtisch ein Hausaltar ist. Der Computer - ich muß hier ausdrücklich meine metaphernreichen Sprache aufheben - stellt einen Hausaltar nicht bildhaft dar, er verkörpert ihn tatsächlich. Die Verrichtungen daran sind Riten: Die Gedenkminute beim Kaltstart; die Handlungen in der entkörperlichten Arbeitsumgebung der Textverarbeitung; die Andacht beim Programmieren, vor allem während der wie Bußgebete wiederholten Compiler-Durchläufe; die sonderbaren Jagdzauber - to catch information - und Kriegstänze mit den Joystick in der Hand; die Suche nach Stammesgemeinschaft, draußen in den Datennetzen. In einer zeitgenössischen Anleitung zur Vorbereitung magischer Meister-Rituale heißt es: "1. Keep of sex and solid food for twelve hours, 2. Drink only water for the first six of these hours and thereafter a glass of wine whenever you feel thirsty, 3. Have no sleep during this time". Davon abgesehen, daß ich keinen Wein trinke, entspricht die Beschreibung genau den Exerzitien, die in eine höhergradige Programmier-Session münden. Die üblichen Sack-und-Asche-Klamotten des Programmieres - je besser der Programmierer, desto dem Weltlichen abgewandter seine Kleidung - vertiefen das Bild eines EDV-Eremiten, Software-Sufis oder Digital-Derwischs: "Howard erzählte von einem Traum, in dem er sich jedes beliebige Programm vornahm, 'es in Ordnung brachte, es meinem Willen unterordnete'. Während er redete, machte er mit den Händen Gesten, die denen eines Zauberers glichen, bevor er das Kaninchen aus dem Hut zieht. Seine Phantasie war die eines Zauberers, denn er strebte einen idealen Zustand an, indem er etwas Geringfügiges tat - zum Beispiel eine Taste drückte oder einen Buchstaben eingab - und dadurch das ganze System zum Leben erweckte" (Turkle). Was sich vor dem elektronischen Hausaltar abspielt, sind alles andere als christliche Zeremonien. Das sollte nicht verwundern angesichts einer Maschine, die nach ihrer ersten Arbeit - der Entschlüsselung des deutschen Nachrichtencodes im zweiten Weltkrieg - weiterentwickelt wurde entsprechend den Notwendigkeiten bei der Berechnung konventioneller und vor allem atomarer Todesbooster, denen gegenüber der Begriff "Waffen" euphemistisch wirkt; einer Maschine, die, wie Weizenbaum berichtet, während des Vietnam-Kriegs die Daten von Aufklärungsflugzeugen auswertete und automatisch Beschußgebiete für Kampfjäger und Bomber freigab; einer Maschine, deren mächtigste Zusammenschlüsse seit etwa zwanzig Jahren jene weltumspannenden End-Geräte in ständigem Leerlauf halten, die innerhalb weniger Minuten zum Abbruch der Evolution eingekuppelt werden können und die in der todchicen Sprache ihrer Betreiber "Leitsysteme zur nuklearen Gefechtsführung" heißen. Dem Wunsch, mit einem Gegner kurzen Prozeß zu machen, entspricht der Computer mit dem Mikroprozeß. So sieht es also aus, wenn Kinderphantasien und archaische magische Vorstellungen militärisch umgesetzt werden: der Widersacher wird ausgezählt und blitzartig weggezaubert. Ich will keinem Mikrocomputer- Anwender unterstellen, daß er vom Schreibtisch aus einen thermonuklearen Weltkrieg führen möchte. Aber in der Idee des Computers sind steinalte irrationale Kulturmuster eingebettet, die unterschwellig mit dem Geist der Anwender wechselwirken und sich zu gespenstischen Interferenzen und Verstärkungseffekten hochschwingen können. Wie viele Einsteiger, so habe auch ich in den ersten Monaten mit dem Computer ein jäh aufflammendes infantiles Allmachtsgefühl erlebt. Mitten in einem demokratischen Staatswesen des zwanzigsten Jahrhunderts lockte plötzlich die Möglichkeit, feudal werden zu können, König der Magnetic Media Metropolis. Das Chamäleon Computer, das kein Menschenrecht kennt, bot sich als Sklave an. Ich verspürte das heftige Bedürfnis zu putschen und in der Wohngemeinschaft, in der ich lebte, eine Techno-Monarchie zu installieren. Der Computer würde, mit einem Lichtfühler verbunden, morgens die Jalousien hochziehen, die Kaffeemaschine in Gang setzen, über eine programmgesteuerte Wasserpumpe die Blumen gießen, den Geldverkehr abwickeln, das Wissen der Welt aus Datenbanken abrufen, abends, von einem Bewegungsmelder veranlaßt, das Licht in den Räumen nur dann einschalten, wenn etwas wie ein Mensch sich darin regte... Wichtigste Verbündete der Macht waren seit jeher die Priester, Astrologen und Magier, die Herren des Kryptischen. "Geheimes Wissen", schreibt Mumford, "ist der Schlüssel zu jedem System totaler Herrschaft. Bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst blieb das geschriebene Wort weitgehend ein Klassenmonopol. Heute hat die Sprache der höheren Mathematik plus Computertechnik das Geheimnis wie auch das Monopol wiederhergestellt, mit einer daraus folgenden Wiedererrichtung totalitärer Kontrolle." In altägyptischen Tempeln wurden an Säulen am Ende langer Hallenfluchten Juwelen angebracht, die zu bestimmten Zeiten, die den Priestern bekannt waren, durch den Lichteinfall verschiedener heller Sterne aufleuchteten und als Signale der Götter vorgestellt wurden - ein probates Mittel, die Massen und bisweilen sogar den Monarchen fromm zu halten. Heute sitzt der Magier als Programmierer vor der Monitor- Kristallkugel und läßt, wie es seit Jahrtausenden in der Zauberei üblich ist, mit Hilfe eines undurchsichtigen Brimboriums von Beschwörungsformeln Schemen, Gelichter und Tele-Visionen auf der Glasfläche erscheinen, sieht auf wahrscheinlichkeitstheoretisch fundiertem Wege hell, simuliert Wundersames, verblüfft durch atemberaubend realistische Illusionen oder zieht sich einen Satz Ephemeriden aus dem Speicher und läßt den Computer, fast ein wenig anachronistisch, ein klassisches Horoskop rechnen. Ein schnurgerader Vektorpfeil führt von den Funkelsteinen der altägyptischen Sakralbauten über die mittelalterlichen Phantasmagorien zu den Special Effects des Hollywoodkinos und den War Theatres der modernen Strategen. Nach Kittler implementiert jeder Mikroprozessor "von der Software her, was einst die Kabbala erträumte: Daß Schriftzeichen durch Verzifferung und Zahlenmanipulation zu Ergebnissen und Erleuchtungen führen, die kein Leserauge gefunden hätte." Die Zusammenstellungen und Anhäufungen von Zahlen ergeben die modernen Höhlenzeichnungen oder Fingermalereien der Statistiken. Die Kolonnade von Zahlen, ob Programm-Outputs oder die maschinensprachlichen Binärsäulen der Programme selbst, bringt dem heutigen Menschen in jeder Hinsicht eine neue Welle primitiver Schau und magisch unbewußten Innewerdens des Empfindens. "Leibnitz als Mathematiker sah wirklich in der mystischen Dyadik von 0 und 1 das Bild der Schöpfung. Die Einheit des höchsten Wesens, das durch binäre Funktion auf das Nichts wirkt, glaubte er, genüge, um alles Seiende aus dem Nichts zu schaffen" (McLuhan). Am Ursprung des Worts Ziffer, auch Chiffre, steht das arabische Wort sifr. Es bedeutet soviel wie "Lücke" oder "leer".
KAP DER GUTEN HOFFNUNG Die Besiedelung der Neuesten Welt. "In Zukunft besteht die Arbeit nicht mehr darin, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern darin, im Zeitalter der Automation leben zu lernen." Marshal McLuhan
Datenland ist Neuland. Die geografischen Räume unseres Planeten sind restlos besetzt. Jeder Fleck der Erde ist von Menschen berührt, betreten und in Besitz genommen, riesige Regionen sind zentimetergenau vermessen und in Katastern registriert. Die Eroberung des Weltraums ist ins Stocken geraten. Das Foto, auf dem die Detonationswolke der Raumfähre "Challenger" wie eine Faust zu sehen ist, aus der sich ein mahnender Finger streckt, wurde zum Inbild für den Fall, der dem technologischen Hochmut folgt. Im übrigen mögen Menschen fernliegender Generationen darüber rätseln, aus welchen schwer erfindlichen Gründen ihre Vorfahren im zwanzigsten Jahrhundert monumentale stählerne Heiligtümer bauten, die offensichtlich derselben Aufgabe wie die altägyptischen Steinpyramiden dienten, nämlich der Himmelfahrt, und in deren Innerem sich ebenfalls Mumien befanden, die monatelang präpariert worden waren, um die jede Lebensfunktion auslöschenden Folgen einer Reise in die Unendlichkeit zu überdauern. Nun ist der Computer an unserem Erfahrungshorizont erschienen und bietet dem Hunger nach Raum neue Nahrung. Er eröffnet ungeahnte virtuelle Regionen, den Kontinent der Daten - neues Land. Datenland ist Schattenland. Oft ist das Argument zu hören, der Computer sei prinzipiell weder gut noch böse, es komme ganz darauf an, was man mit ihm mache. Das stimmt einfach nicht. Man kann mit einer Schrotflinte auch Nägel in die Wand schlagen oder Löcher für Setzlinge in ein Beet stechen. Jeder, der einen Computer benutzt, tut gut daran, sich von Mumford nachdrücklich an die Herkunft der Maschine erinnern zu lassen: "So kam eine der höchsten Leistungen des modernen Menschen in der Erforschung der elementaren Bausteine der physikalischen Welt, gipfelnd in der Erschließung der Kräfte, über die der Sonnengott gebietet, unter dem Druck eines völkermordenden Krieges und der Drohung totaler Vernichtung zustande." Anders als bei der Schrotflinte bleibt die ursprüngliche Bestimmung der Prozeßrechner hinter einem illuminierenden Fächer aus Faszinationen, Verheißungen, Projektionen und notdürftig erdachten zivilen Nutzanwendungen in Deckung. Der Satz eines Ingenieurs, "der Computer ist die Lösung, was uns jetzt noch fehlt, ist das Problem", bezeichnet treffend die arge Verlegenheit, in die die Hersteller gerieten, als die Maschine, die eigentlich zur Vereinfachung militärischer und später verwaltungstechnischer Aufgaben ersonnen worden war, plötzlich zum Massenartikel geriet. Datenland ist Zeichen-Land. Der Geist der Kriegsmaschine steckt tief in den Strukturen der Mikroprozessoren. Der Computer schießt nicht auf Wesen oder Dinge, er schießt auf Zeichen. Computer können Bedeutungen töten. Weizenbaums Beschreibung der im Vietnamkrieg eingesetzten Pentagon-Rechner etwa macht deutlich, wie durch den Computer die Bedeutung von Verantwortung desintegriert wird. Wer konnte noch dafür zur Verantwortung gezogen werden, daß in von einem Computer ausgewählten Zonen alles unter Feuer genommen werden durfte, was sich bewegt? Der Computerfabrikant? Die Programmierer, die die Auswahlkriterien eingegeben hatten? Die Offiziere, welche die Computer bedient und den Output an die Funker weitergegeben haben? Je mehr Entscheidungen ins Innere des Computers verlagert werden, die das Leben von Menschen mittelbar oder unmittelbar betreffen, desto unfaßbarer wird Verantwortung. Eines der großen Probleme der Gegenwart - daß nämlich die Moral jedes Einzelnen von uns ohnehin bereits bei dem Versuch überfordert ist, auch nur die offiziellen Daten und Informationen zu bewerten, die ständig aus jeder Ecke des Globus ankommen - wird dadurch deutlich verschärft. Es ist ein Gemeinplatz, daß die Botschaften von Nöten und Unrecht, die stündlich aus aller Welt in die Informationskanäle rauschen, die spontane Reaktion, zu helfen, in die Leere der Medienrealität laufen lassen und das Gefühl, mitverantwortlich zu sein, tief verstören. Den Militärs mußte überaus willkommen sein, gefühlsgefährdete Menschen bei der Abwicklung von Entscheidungsprozessen, die zur Vernichtung von variablen Bevölkerungsmengen führen, durch Todesverarbeitungsmaschinen ersetzen zu können. Seit Computer mit teils abenteuerlichen Zuwachsraten auch unter Zivilisten Verbreitung finden, zeigt sich allerdings immer öfter, daß der Schuß nach hinten losgeht. Das beste Beispiel dafür sind Hacker, die sich mehr und mehr als verhaßte Schatten im Datenland sehen, obwohl - oder gerade weil - sie der lebende Beweis für das Funktionieren der Ursprungsidee (anarchisches Handeln in einem moralfreien Raum) sind und deutlich machen, daß es auch für jemanden, der in der wirklichen Welt im Supermarkt nichtmal einen Kaugummi klauen würde, geradezu unmöglich ist, in einer erdumspannenden, von allen Sinnesreizen gereinigten Realität, die nur noch aus Zeichen besteht, etwas wie Unrechtsbewußtsein oder Verantwortungsgefühl zu entwickeln. Datenland ist Wissens-Gebiet. Wir leben - siehe Quantenphysik - in einer Zeit, die einem Einzelnen von uns das Gefühl gibt, er könne nichts mehr entdecken oder erforschen. Die allerwinzigsten Partikel oder Lichtjahre entferntliegenden Details, an denen noch ein wenig gerätselt werden kann, seien nur nur noch mit gewaltigen industriellen Ressourcen, akademischen Teams und millionenteuren Instrumenten wie Teilchenbeschleunigern, Radioteleskopen, Gravitationswaagen u.ä. erfaßbar. Dem Einzelnen, zum "Laien" und "Rädchen im Getriebe" verzwergt, biebe nichts mehr zu tun als morgens ins Büro oder in die Schule zu gehen, nachmittags den Rasen zu mähen und abends sein Weltbild wie einen Wecker nach den Nachrichten zu stellen. Diesem Gefühl der Enteignung einer jedem Menschen innewohnenden Entdeckungslust, einer Forscherfreude und eines Erkenntnisdrangs stellt sich nun der Computer entgegen. Maschinen mit einer Leistung, wie sie bis vor wenigen Jahren noch militärischem und naturwissenschaftlichem Großgerät vorbehalten war, und vor allem mit einer völlig neuen Flexibilität, nehmen in Kinderzimmern und auf privaten Schreibtischen Platz und lösen das Enteignungsgefühl durch ein höchst widersprüchliches, auf jeden Fall aber intesives Gemisch aus Empfindungen, Erfahrungsreizen und Ideen ab, von denen ich einige in diesem Aufsatz näher zu beschreiben versucht habe und deren Gesamtheit ich als das Kolumbus-Gefühl bezeichne. Der Computer macht es möglich, daß Kids plötzlich mehr wissen, als Experten. Nichtmathematiker untersuchen lustvoll hochabstrakte Gebilde, Fun- Programmierer lassen über die Benutzeroberflächen schrecklich seriöser Anwenderprogramme kleine, grafische Käfer krabbeln, und kühle Techniker fangen an, in meditativer Weise darüber nachzusinnen, wie ihre Seele arbeitet. Mag sein, daß die Computerwelt in unserer Zeit als Substitut für das schwindende Gefühl des großen Abenteuers Furore macht. Gewiß ist, daß man in der vollen Bedeutung des Wortes bei einem Computer mit allem rechnen muß. Vor allem aber wird die Einsicht wieder lebendig, daß die Welt noch lange nicht entdeckt ist.
Quellen (Auswahl): CONWAY, David: "Magic. An occult Primer", Mayflower Books. KITTLER, Friedrich: "Grammophon Film Typewriter", Brinkmann & Bose. MCLUHAN, Marshal: "Die magischen Kanäle", econ. MUMFORD, Lewis: "Der Mythos der Maschine", Fischer. TURKLE, Sherry: "Die Wunschmaschine", rororo. WEIZENBAUM, Joseph: "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft", Suhrkamp.
(c) Peter Glaser |
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[Peter Glaser]
DAS KOLUMBUS-GEFÜHL