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Eine neue Verantwortung in der Informatik ?
Von der Reimplementation der Technokratie durch Moral Zunaechst koennte man meinen, dass dann eben neben den Werten der Freiheit und der Gleichheit auch noch reine Luft und reines Wasser, Baeume und Tiere wertekatalogfaehig werden; und da es ohne- hin nur um Listen geht, koennte man beliebig er- weitern: Pandas, Tamilen, Frauen... . Das waere je- doch, langfristig und Muss da nicht zwangslaeufig aufs Grundsaetzliche ge- das Pendel zugunsten jener sehen, eine zu einfache ausschlagen, die erst so Auskunft. richtig aufbluehen, wenn sich die Situation verkom- Niklas Luhmann, pliziert? Oekologische Kommu- nikation John Brunner, Der Schockwellenreiter Die Computertechnologie schreitet voran. Niemandem wird es gelingen, sich der Informatik-Zivilisation zu ent- ziehen. Bestenfalls koennte jemand den Kontinent verlassen, um sich in die letzten verbliebenen Urwaelder zurueckzuziehen. Da solches Tun nur fuer die wenigsten vorstellbar ist, kommt es darauf an, den Urhebern informationstechnischer Loesungen ein Bewusstsein davon zu vermitteln, was ihr Konstruieren ueber die blosse Technik hinaus bewirkt. Innerhalb der Wissen- schaft von der Informatik gibt es gegenwaertig eine Reihe von klugen Personen, die sich mit den Konsequenzen ihres Fachs beschaeftigen. Ob die Auseinandersetzung breitere Kreise innerhalb der Disziplin erreichen wird sei dahingestellt. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass vermeintlich neue Denk- weisen nur das wiederherstellen, was sie selbst als Uebel erkannt haben: die reine Technokratie. Der grosse Teil dieses bisher also beschraenkten Perso- nenkreises gehoert einer Generation an, die entscheidende Eindruecke ihres Lebens vor mehr als zwanzig Jahren aufgenom- men hat. Damals war der (universitaere) Zeitgeist von diffu- sen Traeumen des Sozialismus gepraegt, wie es sich die nach- gewachsene Generation kaum vorstellen kann. Wer heute (wie der Autor) als Mittzwanziger zum Beispiel eine Fernsehdoku- mentation ueber diese Zeit ansieht und etwa mit dem morali- schen Pathos eines langatmigen und irgendwie verblendeten Rudolf Dutschke (1940-1979) konfrontiert ist, der sitzt mit dem offenen Mund des Staunens da und kann nicht glauben, dass es sich bei diesen fotografischen und magnetischen Aufzeich- nungen um Geschehnisse handelt, die Realitaet waren und praegenden Einfluss auf die Elterngeneration hatten. Nun ist nicht zu bestreiten, dass es der Zeit um "Acht- undsechzig" zu verdanken ist, dass sich der menschliche Um- gang deutlich entkrampft hat. Wenn ein Beamter heute einen Knopf im Ohr oder einen Stoppelbart tragen kann, dann gehen solche und viele andere Entwicklungen sicher auf diese Zeit zurueck und koennen zu einem guten Teil als Verdienst der damals jungen Generation angesehen werden. Zwang und Enge der fuenfziger Jahre, die sich damals aufzuloesen begannen, sind fuer junge Menschen heute kaum noch vorstellbar. ------ Die Rede ist von Tugenden. Nun sind die Institutionen-Marschierer von damals laengst angekommen. Sie haben ihre grossen und unerreichbaren Plaene aufgegeben und erinnern sich sentimental an die damalige Zeit. Was sie aber nicht aufgegeben haben sind ihre Denkweisen. Diese wirken als Rudimente fort und koennten angesichts der heute absehbaren Probleme durch die Anwendung der Informations- und Kommunikationstechniken einmal mehr in die Sackgasse fuehren. Die Informatik beginnt auf inneren und aeusseren Druck zu entdecken, dass in ihrem Tun eine Verantwortung steckt, die sie bisher zuwenig wahrgenommen hat. Nun schreitet der Einsatz von Computertechnik jedoch schnell voran - es werden taeglich neue Einsatzmoeglichkeiten entdeckt, und die Systeme selbst entwickeln einen Grad der Komplexitaet, der fuer den Menschen nicht mehr ueberschaubar ist. Die moeglicherweise katastrophalen Folgen sind kaum absehbar. Angesichts solcher Zustaende nimmt es nicht Wunder, dass sich auch unter Informa- tikern Ratlosigkeit ausbreitet. Die Frage nach der Verant- wortung wird entweder ignoriert oder oftmals mit hilflosen Forderungen nach einer neuen Moral beantwortet. Man koenne der Probleme nur Herr werden, wenn der Techniker sich ueber sein Tun klar wird und selbiges nur an dem orientiert, was fuer den Menschen als Wert wuenschenswert ist. Nun liegt darin aber eine doppelte Problematik. Sollte man sich hinreissen lassen, einen Wertekodex definieren zu wollen, so stellt sich die Frage, wer ueber ihn zu bestimmen habe. Richtlinien von Standesorganisationen koennen sich Entscheidungen ueber gesamtgesellschaftliche Fragen nicht anmassen. Bliebe also die Loesung ueber politische Vorgaben, wie sie sich vielleicht in Analogie zu den bekannten Grenzwerten der Umweltgesetzgebung entwickeln liessen. Doch neben der Schwierigkeit einer Operationalisierung (In wel- cher Einheit sollte man den Grad des informationstechnischen Wissens-, Anwendungs- und Folgenstandes messen?) gaebe es das offensichtliche Problem der Ueberforderung von Politikern, die sich schon lauthals als Experten preisen lassen, wenn sie die Funktion einer Enter-Taste begriffen haben. Der zweite Aspekt der Doppelproblematik liegt im Wesen von Moral. Innerhalb der Informatik ist (zunaechst von wenigen vorsichtigen Stimmen) die Forderung nach "Geboten" zu hoeren, und es wird gar von der Notwendigkeit neuer Tugenden gesprochen. Was sich aus solchen Vorstellungen ergeben kann, klingt schon in den Begriffen an. Den Extrem- fall sehen wir exemplarisch in Buechners Robespierre, wenn er fordert, dass die Tugend durch den Schrecken herrschen muesse. Wo Vorstellungen von Moral Eingang in das Denken ueber elementare Dinge finden, verlieren Werte wie Freiheit und Menschenwuerde. Denn Tugenden kennen keine Toleranz; sie sind an glaeubigen Gehorsam gewoehnt. Fuer individuelle Ideen der Problemloesung oder neue Vorschlaege wird dann kein Platz mehr sein. Aber das Dilemma setzt sich noch fort. Zunaechst mag man eintretenden Schaeden noch mit Hilfe des "Versicherungs- tricks" begegnen. Eine Haftpflichtversicherung fuer den Betrieb von Computersystemen kann eventuelle Schaeden schnell finanziell ausgleichen. Doch die Tragfaehigkeit eines solchen Systems wird schnell schwinden. Denn die Informationstechnik ist von dem Drang zu immer groesseren Strukturen gekennzeich- net; Computernetze sind auf dem Vormarsch. Es entsteht also eine neue Art von Grosstechnologie, deren Aussmass bestenfalls mit denen der Chemie- oder Atomindustrie zu vergleichen ist. Offenbar scheint also auch die Informatik in Gebiete vorzu- stossen, wo die Beherrschbarkeit mit dem Hinweis auf fatale Restrisiken relativiert werden muss. Es wird sich niemand mehr finden, der solche Grossrisiken versichert. ------ Das Ergebnis ist Selbstberuhigung! Moeglicherweise kuendigt sich als Reaktion derzeit schon ein Trend an, der schliesslich irgendwelche technischen Abstrakta zu "guten" bzw. "schlechten" Systemen erklaert. Nach Art von Gesetzbuechern liesse sich dann entscheiden, ob ein Informatiker oder ein Unternehmen seine Verantwortung im jeweiligen Falle verletzt hat. Leider kann ein solches Vorgehen nicht vor negativen Wirkungen der Informations- technik schuetzen. Dies ist aus drei Gruenden so. Zunaechst ist es eine alltaegliche Erfahrung, dass sich Personen von Taten mit schaedlichen Folgen durch Strafen dann nicht zurueckhalten lassen, wenn das mit Sanktionen belegte Tun ausgesprochen lukrativ ist. Gerade die Informationstechnik wird auch in Zukunft grosse wirtschaftliche Nutzenpotentiale beinhalten. Zum Zweiten ist die Hemmschwelle fuer untugendhaftes Handeln dann gering, wenn jemand davon ausgehen kann, dass ihm fehlerhaftes Handeln kaum nachgewiesen werden kann. Wie etwa sollte der Urheber und Emittent eines Computer-Virus ausfin- dig gemacht werden? Nun werden die Verfechter einer neuen Moral einwenden, dass es nicht um Sanktionen gegen Personen geht, die bestimm- ten Vorstellungen zuwiderhandeln, sondern vielmehr darum, den Menschen ein Bewusstsein zu vermitteln, dass sie dazu veranlasst, bestimmte Wertvorstellungen aus eigener Ueberzeu- gung und Entscheidung zu vertreten. Gegen eine solche For- derung ist zunaechst nichts einzuwenden, ja, sie muss sogar begruesst werden, weil sie keinen unmittelbaren Zwang ausuebt und somit der menschlichen Wuerde gerecht wird. Aber dennoch muss deutlich gesagt werden, dass gerade aus dieser intrinsi- schen Motivation der dritte und vielleicht beunruhigenste Grund gegen die Wirksamkeit moralischen Bewusstseins er- waechst. Es ist die menschliche Neigung zur selektiven Wahr- nehmung der Welt - ein Phaenomen, das immer nur die anderen betrifft, weil man es an sich selbst nicht bemerken kann. Nehmen wir nur eines der zahlreichen banalen wie grotesken Beispiele, die uns im Alltag begegnen. Die Tragik des gewaehlten Falles liegt darin, dass gerade ein verantwor- tungsbewusser Mensch in die Faenge psychischer Sperren geraet. Stellen wir uns also einen klugen und liebenswerten Hoch- schullehrer der Informatik vor. Sein Hauptanliegen ist unter anderem die Oekologie: unsere natuerlichen Lebensgrundlagen muessen wiederhergestellt werden, was auch zentrales Ziel einer aufklaerenden Informatik sein muss. Er will zu einer Tagung in einer entfernten Stadt. Und er entscheidet sich nicht fuer die relativ umweltfreundliche Bahn, sondern be- nutzt das Auto, weil es ja billiger sei... Natuerlich ist ihm laengst bewusst, dass gerade das Auto eine eklatante (und nicht nur umweltoekologische) Fehlent- wicklung ist. Dennoch handelt er nicht nach seiner Erkennt- nis. Es muss bei der Benutzung des eigenen Wagens offenbar eine andere Fragestellung beruehrt sein! Legen wir uns auf die Einsicht fest, dass diese Bewusstseinsspaltung einem Menschen nicht zum Vorwurf zu machen ist, so wird erkennbar, dass vorhandenes Wissen und bestimmte Wertvorstellungen keine unmittelbare Funktionalitaet im Hinblick auf die Abwendung von Schaeden hat. Die einzige Schlussfolgerung, die hier bleibt, ist truebe. Moralisches Bewusstsein leistet fuer den einen das, was dem anderen schon die Unwissenheit vermit- telt: das reine Gewissen. Die Arbeit des Predigens und Aufklaerens ueber die schlechten Dinge der Welt gewaehrt Ablass und legitimiert das eigene unverantwortliche Tun. Die Frage nach der Ueberwindung einer solchen Laehmung draengt angesichts der Entstehung einer neuen Schluesseltech- nologie, einer Technologie also, von der das Wohl und Wehe unserer Zivilisation abhaengen wird. Nehmen wir den Einsatz von Expertensystemen. Je komplexer sie werden, desto geringer ist die Chance des Menschen, ihre Antworten zu beurteilen. Die Beispiele sind hinlaenglich bekannt. Welcher Arzt wird noch den Mut haben, sich gegen die Aussage eines vielfach bewaehrten medizinischen Systems aufzulehnen. Denn sollte die Ueberzeugung des Arztes nicht zum gewuenschten Erfolg fuehren, so wird man ihn mit ernsten Konsequenzen fragen, weshalb er nicht nach dem Rat des Systems gehandelt habe. Nun kann man redundante Systeme vorschlagen, die unabhaengig voneinander entwickelt werden und somit nicht gleiche Fehler enthalten koennen. Doch wer wollte entschei- den, welchem System bei unterschiedlichen Ergebnissen Ver- trauen geschenkt werden soll? Es bleibt nur die Uebernahme offenbar bewaehrter staatsphilosophischer Ueberlegungen: Las- sen wir die Mehrheitsmeinung der Systeme entscheiden. Bezeichnend ist, dass selbst die schaerfsten Kritiker unsicherer informationstechnischer Systeme beginnen, elek- tronisch gespeichertes Wissen fuer automatische Analysen zu verwenden. Ihre Argumentation lautet, dass etwa angesichts der aus unsicheren Betriebssystemen entstehenden Virenpro- blematik keine andere Wahl bleibt, wenn man die auf solchen Computern verarbeiteten Daten schuetzen will. Ist das ein faustischer Pakt? Oder ist es Hilflosigkeit angesichts einer explosionsartigen Verbreitung und Anwendung aeusserst unvoll- kommener Computertechnik? Denn eine moegliche Folge ist allen bewusst: Der Versuch einer provisorischen Gefahrenabwehr fuehrt dazu, dass die Anwender meinen, sich nunmehr in Sicherheit wiegen zu koennen. ------ Unwirksame Vorschlaege Trotzdem darf sich kein Fatalismus ausbreiten. Dies waere eine bedenkliche Reaktion auf Technik-Trends, deren Weichen sich heute stellen. Doch es ist schwierig, Forderun- gen zu finden, die Gefahren abwenden koennten. Und wenn man sie formuliert, so erscheinen sie zu banal, als dass an ihre Wirksamkeit geglaubt werden koennte. Denn unsere Sinne straeu- ben sich, in kleinen Dingen Ursachen fuer umfassende Struktu- ren zu sehen. Bei der Beobachtung der universitaeren Informa- tik-Ausbildung faellt auf, dass die Studenten mit Lehrstoff und Uebungsaufgaben ueberschwemmt werden. Wenn sie ihre Aufga- ben bewaeltigen wollen, so sind sie zum Pfuschen gezwungen, denn es bleibt kaum Zeit, ueber Problemloesungen eingehend nachzudenken. Dies fuehrt zu einer Mentalitaet, die program- miertechnischen Wildwuchs zutage foerdert. Die Appelle der Lehrenden, einen gut dokumentierten und ueberschaubaren Ent- wurf abzuliefern, muss da als Alibi-Absonderung im Winde verhallen. Unter den Studenten macht das Wort von der "experimen- tellen Informatik" die Runde. Weil keine kompetenten An- sprechpartner zur Verfuegung stehen, oder das schlechte universitaere Klima es verbietet, stellen die Studenten ihre Fragen kurzerhand an den Rechner, indem eine vermeintliche Loesung einfach ausprobiert wird. Vermittelt der Augenschein das richtige Funktionieren, so gilt das Experiment als ge- glueckt. Auf das Verstaendnis fuer die Loesung und die Beurtei- lung ihrer Tragfaehigkeit kommt es dann nicht mehr an. Und so sind Nichtnachvollziehbarkeit und Fehleranfaelligkeit pro- grammiert. Dies ist umso gefaehrlicher als eine Reflexion ueber den Zweck eines Programms gar nicht angestellt wird. Es fehlt also an etwas, dass man die Emanzipation des Informatikers nennen koennte. Die Forderung wuerde lauten: Der reine Techniker, der auf Vorgaben aus Politik und Wirtschaft blind zu arbeiten beginnt, muss der Vergangenheit angehoeren, wenn die grosstechnische Informatik nicht zur ernsthaften Beeintraechtigung unseres Lebens werden soll. Informatiker muessten sich ein Bewusstsein ueber die Konsequenzen ihrer Technologie verschaffen. Doch bei naeherer Betrachtung ist dieser Gedanke nicht unproblematisch. Eine reine Emanzi- pation wuerde lediglich eine ausgeweitete Entscheidungs- kompetenz derjenigen bedeuten, die eine informationstechni- sche Ausbildung besitzen. Dabei besteht die Gefahr, dass statt wirtschaftlichen oder sozialen Aspekten die techni- schen staerker in den Vordergrund treten. Denn es laesst sich sicher nicht leugnen, dass Informatiker zunaechst von rein technischen Aspekten getrieben sind. ------ Mit dem Leitbild in die Katastrophe Die Gefahr liegt also im reinen Ingenieur-Zustand des Informatikers. Diesem entgegenzuwirken waere eine Grund- voraussetzung, wenn man Hoffnungen in eine bessere Gefah- renabwendung durch die Informatiker selbst setzt. Nun gibt es in der eingangs genannten Personengruppe die Ueberzeugung, dass es darauf ankomme, positive Leitbilder zu schaffen, an denen sich Informationstechnik dann orientieren wuerde. Solche Leitbilder koennten etwa bestimmte soziale Anforderun- gen beinhalten. Die Hoffnung besteht darin, dass eine Vor- stellung von erstrebenswerten Zustaenden den Informatikern helfen koennte, Systeme zu schaffen, die dem Menschen gerecht wuerden. Die Gefahr risikoreicher Technologie koennte somit vermieden werden. Die Erfahrung lehrt, dass diese Hoffnung truegt. Gerade das Streben nach Verwirklichung grosser Zielvorstellungen, wie Utopisten sie immer wieder in grossen Gemaelden der Phantasie dargelegt haben, ist hochgefaehrlich. Es fuehrt in Sackgassen. Denn wer euphorisch auf dem Weg ist, schaut auf die Erfolge und vergleicht sie stolz mit der zu verwirk- lichenden Idee. Einen Blick auf die zunaechst unbedeutend erscheinenden negativen Nebenwirkungen gibt es nicht. Ein eklatantes Beispiel fuer die fatalen Folgen der Verwirkli- chung einer menschenfreundlichen Utopie sehen wir heute im Automobil. Niemand konnte der Idee widersprechen, dass ein Kraftwagen im Besitz eines jeden Haushaltes den Menschen aus der Enge und Tristheit seiner eingeschraenkten Bewegungsmoeg- lichkeiten befreien koennte. Der geplagte Stadtmensch wuerde am Wochende hinaus in die frische und freie Natur aufbre- chen. Menschen wuerden einander begegnen, weil sie mit dem Automobil schneller beieinander sind. Aber niemand konnte oder wollte die vielfaeltigen Folgen sehen, die sich neben den positiven Leitvorstellungen einstellen mussten (vgl. Chalisti vom 1. Juni 1991: "Wir leben laengst im Cyberspace"). Heute haben wir die Pest in den Staedten, und niemand kann einen Ausweg weisen, da der individuelle Kraftverkehr laengst in die Gesamtzivilisation eingebaut ist. Die vielfachen Abhaengigkeiten schaffen offen- bar vollendete Tatsachen. Die zynische Antwort auf die taegliche Beeintraechtigung des Lebens durch Laerm usw. sowie die zehn- oder zwoelftausend zerquetschten und verkohlten Todesopfer lautet: Es ist der Preis des Fortschritts. Und genauso wird es mit der Informatik kommen. An positiven und segensreichen Leitbildern fehlt es auch ihr nicht, und das formulierte Ziel steht ganz analog zum Strassenverkehr. Gefordert wird die "Gleichheit der Chancen fuer die Welt der kognitiven Prozesse". Dies sei eine gewal- tige Aufgabe, deren Umsetzung unter Umstaenden Jahrzehnte dauern kann. So nebuloes die Forderungen bei genauerer Betrachtung sind, so wahrscheinlich ist auch, dass eine Sackgasse betreten wird. Das Bemuehen um ein im Gegensatz zu amerikanischen Trends differenzierteres und durchdachteres Leitbild mit moralischem Anspruch zeigt seine schlimmen Folgen erst Generationen spaeter. Im Strassenverkehr haben wir heute den Zustand, dass Kinder mit kiloschweren Rucksaecken - Expeditionstraegern gleich - auf den mit toedlichen Gefahren gepflasterten Schulweg geschickt werden. Derweil setzt sich Papi in den tonnenschweren Wagen und brettert los zum Arbeitsplatz. Unterwegs faehrt er hier und da an kleinen Holzkreuzen und verwelkten Blumenstraeussen vorbei... Fuer die Opfer der Computertechnik werden keine Pixel- Kreuzchen auf den Bildschirmen erscheinen. Nun kaeme seitens kritischer Informatiker folgender Einwand: Wenn uns gerade durch die Informatik in der Zukunft Gefahren drohen, so waere es doch unverantwortlich, wenn wir nicht wenigstens den Versuch machen wuerden, positive Vorstellungen zu entwickeln. Und in der Tat kann der Eindruck entstehen, dass die hier unternommene Argumentation auf einen reinen Fatalismus oder auf strikte Verweigerungshaltung gegenueber informationstech- nischem Fortschritt hinauslaeuft. Dies aber muss als Irrtum zurueckgewiesen werden. Hier geht es um die Warnung vor der schleichenden Katastrophe, die mit den bisher vorgeschlage- nen Mitteln nicht zu bekaempfen ist. Zwei Hauptgesichtspunkte sind dabei zu beachten. Zunaechst darf nicht uebersehen werden, dass Informationstechnik (wie viele andere Lebensbe- reiche auch) der wirtschaftlichen Dynamik unterliegen. Weiterhin muss in aller Deutlichkeit die Frage gestellt werden, ob der Gestaltungswillen allein den Informatikern ueberlassen werden darf. Die Computer haben innerhalb der letzten zehn Jahre in grossem Stil Einzug in die industrielle Fertigung gehalten. Sie haben Logistik und Distribution revolutioniert sowie die Arbeit in den Bueros veraendert. Es gibt also offensichtlich deutliche Vorteile durch Rationalisierung. Vorteile ergeben sich besonders aus dem Austausch von Informationen in einem grossen System. Es reicht nicht, von der Abbildung bisheriger Organisationsstrukturen auf Computer zu sprechen, denn deut- lich vergroesserter und differenzierterer Informationsaustausch oeffnet Tore zu ganz neuen Strukturen. Ohne hier eingehendere Betrachtungen anstellen zu wollen, kann gesagt werden, dass Informationstechnik zu umfassenden, grossraeumig vernetzten Systemen fuehrt, deren Ueberschaubarkeit sich verringert. Die oft gehoerte Forderung nach kleinen und nachvollziehbaren An- wendungen liegt nicht im Wesen wirtschaftlicher Systeme. ------ Auf dem Weg zum Standesduenkel Gleichzeitig werden Sicherungsmassnahmen aus Kosten- oder strukturellen Gruenden nicht vorgenommen. Die Anwender muessen sich auf ein bestimmtes System festlegen und koennen anschliessend nicht ohne Weiteres umsteigen. Die Anbieter versuchen ihrerseits die Gewinnmoeglichkeiten einer Technik moeglichst lange auszunutzen. Erst wenn die Fehler der Sys- teme unertraeglich werden, beginnt sich ein Markt fuer Sicherheitstechnik zu entwickeln. Die Rolle der Prediger und Warner ist aeusserst schwer einzuschaetzen. Die interessante Frage lautet, inwieweit Bewusstsein unabhaengig von Kostenge- sichtspunkten das Design bestimmen kann. Moeglicherweise sind viele Kostenrechnungen von vornherein Makulatur und dienen nur der Rechtfertigung einer Idee, die zunaechst nicht ratio- nal begruendet werden koennte. Aber gerade wenn Wahrheit heute beschlossen werden muss, spielen Leitvorstellungen eine entscheidende Rolle. Einfluss haette also derjenige, der in der Lage ist, bestimmte Zielvorstellungen in die Ideenwelt der Verantwortungstraeger zu befoerdern. Aber Einfluss bedeutet noch nicht die Macht zur Gestaltung. Wenn Informatiker glauben, wuenschenswerte Tech- nologien seien exakt planbar, so muss auf die Sozialwissen- schaften verwiesen werden, die laengst eingesehen haben, dass die Planbarkeit von umfassenden Idealvorstellungen aeusserst gering ist. Die Informatik ist eine vergleichsweise junge Wissen- schaft. Sie beginnt Anstrengungen zu unternehmen, ihren Platz zu finden. Dies wird durch den Umstand erschwert, dass sie die Schluesseltechnologie unserer Zeit liefert und sich somit grossen Erwartungen gegeuebersieht. Da Geld und Anerken- nung winken, lohnt es fuer viele Informatiker nicht, Gedanken an die Folgen zu verschwenden. Doch die Zweifel sind gewach- sen. Es wird die Forderung laut, Informatiker muessten sich staerker mit den vielfaeltigen sozialen Auswirkungen beschaef- tigen, diese diskutieren und somit schon im Vorfeld Schwie- rigkeiten entgegenwirken. Die Frage ist nunmehr, ob die Informatik damit nicht ueberfordert ist. In der oeffentlichen Meinung ist das Vertrauen in den technischen Fortschritt ruecklaeufig. Es setzt sich die Ein- sicht durch, dass fuer jede Entwicklung auch ein Preis zu zahlen ist. Wahrscheinlich ist dieser Trend auch Ursache des Auftauchens kritischer Fragen innerhalb der Informatik. Diese auf den ersten Blick zu begruessende Entwicklung birgt aber die Gefahr der drohenden (Selbst-)Isolation der Informatik. Es ist geradezu ein Gemeinplatz, dass es in der Natur von Insti- tutionen liegt, dass sie nur ueber bestimmte Schnittstellen mit ihrer Umwelt in Kontakt treten. Wird ein neues Problem ueber- haupt wahrgenommen, so erklaeren sie sich fuer nicht zustaendig, oder es wird versucht, das Problem innerhalb des Systemrah- mens zu loesen. Und da liegt der heikle Punkt. Die Folgen der Einhal- tung des Systemrahmens "Informatik" koennte zu einem neuarti- gen Standesduenkel fuehren, indem man meint, alle Probleme selbst loesen zu koennen. Da kaum zu vermuten ist, dass naturwissenschaftlich ausgebildete Fachkraefte ein ausrei- chendes Gespuer fuer soziale oder wirtschaftliche Frage- stellungen entwickeln, bleibt die Forderung nach der Wahr- nehmung von Verantwortung innerhalb der Informatik zweifel- haft. Eine weitere Differenzierung und Spezialisierung bestehender Institutionen erscheint heute ebenfalls unzurei- chend. Denn ausschliessliche Fachbezogenheit von umfassenden Gestaltungsvorstellungen bedeutet eine neue Form der Techno- kratie. Dies waere eine Entwicklung, die nicht hingenommen werden kann. Es kommt heute darauf an, neuartige gesell- schaftliche Organisationsformen zu finden, welche den Pro- blemen unserer fortschreitenden technischen Zivilisation gerecht werden. ------ Die neue Moderne schaffen Seit Mitte der siebziger Jahre haben sich Organi- sationsformen herausgebildet, die unter dem Begriff "neue soziale Bewegungen" zusammengefasst werden. Ihnen ist es gelungen, vielfaeltigste Probleme und Fragestellungen in das oeffentliche Bewusstsein zu transportieren. Der Vertrauens- schwund des unausgereiften Btx-Systems etwa geht sicher nicht zuletzt auf die spektakulaeren Aktivitaeten von Personen zurueck, die diesen Bewegungen zuzurechnen sind. Ihnen ist es gelungen, eine Kontrollfunktion wahrzunehmen, die anderen Institutionen innerhalb der Gesellschaft offensichtlich nicht zur Verfuegung stand. Es kann aber nicht uebersehen werden, dass die neuen sozialen Bewegungen heute moeglicher- weise an die Grenzen ihrer Leistungsfaehigkeit stossen, weil oeffentliches Bekanntwerden von Missstaenden nicht ausreicht. Blossgestellte Institutionen sind in der Lage, Schwaechen und Fehler zu kaschieren bei gleichzeitiger Verbesserung der Abschottung gegenueber Aussenstehenden. Die zunehmende Komplexitaet und Verwobenheit techni- scher und sozialer Zusammenhaenge erfordert neue Organisa- tionsformen, welche die Isolation unterschiedlichster Insti- tutionen aufhebt. Es bedarf eines offenen und fuer jeden Interessierten zugaenglichen Forums, das Personen zunaechst informell zusammenfuehren kann. Kommunikation, die - dem Platzen einer Sporenkapsel gleich - auf das zufaellige Erreichen passender Adressaten setzt, muss durch andere Konzepte ergaenzt werden. Die Technik der Mailboxen bietet die Moeglichkeit dazu. Doch waere es verfehlt, eine isolierte Gegenkommunikation nach dem Muster von Presseagenturen auf- bauen zu wollen. Diese Vorstellung zeigt sehr deutlich, dass der technischen Ingenieurleistung der Bereitstellung von Kommunikationssoftware noch keine angemessenen Ideen ueber die ungeahnten Moeglichkeiten der Nutzung dieser neuen Tech- nik gefolgt sind. Nur wenn unser Gemeinwesen eine verfei- nerte und gleichzeitig uebergreifende Organisationskultur entwickelt, wird sie den zukuenftigen Risiken der Computer- Zivilisation einigermassen gewachsen sein. Dazu bedarf es der Fantasie unterschiedlichster Menschen. Moralische Informati- ker allein reichen keinesfalls! Von Frank Moeller, Oktober 1991 F.MOELLER@LINK-HH.ZER ------------------------------------------------------------------------------ |
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