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Eine neue Verantwortung in der Informatik ?


Von der Reimplementation der Technokratie durch Moral

   Zunaechst koennte man meinen, dass dann eben neben
   den Werten der Freiheit und der Gleichheit auch
   noch reine Luft und reines Wasser, Baeume und
   Tiere wertekatalogfaehig werden; und da es ohne-
   hin nur um Listen geht, koennte man beliebig er-
   weitern: Pandas, Tamilen,
   Frauen... . Das waere je-
   doch, langfristig und       Muss da nicht zwangslaeufig
   aufs Grundsaetzliche ge-    das Pendel zugunsten jener
   sehen, eine zu einfache     ausschlagen, die erst so
   Auskunft.                   richtig aufbluehen, wenn
                               sich die Situation verkom-
       Niklas Luhmann,         pliziert?
       Oekologische Kommu-
       nikation                    John Brunner,
                                   Der Schockwellenreiter

       Die Computertechnologie schreitet voran. Niemandem 
 wird es gelingen, sich der Informatik-Zivilisation zu ent-
 ziehen. Bestenfalls koennte jemand den Kontinent verlassen, 
 um sich in die letzten verbliebenen Urwaelder zurueckzuziehen. 
 Da solches Tun nur fuer die wenigsten vorstellbar ist, kommt 
 es darauf an, den Urhebern informationstechnischer Loesungen 
 ein Bewusstsein davon zu vermitteln, was ihr Konstruieren 
 ueber die blosse Technik hinaus bewirkt. Innerhalb der Wissen-
 schaft von der Informatik gibt es gegenwaertig eine Reihe von 
 klugen Personen, die sich mit den Konsequenzen ihres Fachs 
 beschaeftigen. Ob die Auseinandersetzung breitere Kreise 
 innerhalb der Disziplin erreichen wird sei dahingestellt. 
 Jedenfalls besteht die Gefahr, dass vermeintlich neue Denk-
 weisen nur das wiederherstellen, was sie selbst als Uebel 
 erkannt haben: die reine Technokratie.

       Der grosse Teil dieses bisher also beschraenkten Perso-
 nenkreises gehoert einer Generation an, die entscheidende 
 Eindruecke ihres Lebens vor mehr als zwanzig Jahren aufgenom-
 men hat. Damals war der (universitaere) Zeitgeist von diffu-
 sen Traeumen des Sozialismus gepraegt, wie es sich die nach- 
 gewachsene Generation kaum vorstellen kann. Wer heute (wie 
 der Autor) als Mittzwanziger zum Beispiel eine Fernsehdoku-
 mentation ueber diese Zeit ansieht und etwa mit dem morali-
 schen Pathos eines langatmigen und irgendwie verblendeten 
 Rudolf Dutschke (1940-1979) konfrontiert ist, der sitzt mit 
 dem offenen Mund des Staunens da und kann nicht glauben, dass 
 es sich bei diesen fotografischen und magnetischen Aufzeich-
 nungen um Geschehnisse handelt, die Realitaet waren und 
 praegenden Einfluss auf die Elterngeneration hatten.

       Nun ist nicht zu bestreiten, dass es der Zeit um "Acht- 
 undsechzig" zu verdanken ist, dass sich der menschliche Um- 
 gang deutlich entkrampft hat. Wenn ein Beamter heute einen 
 Knopf im Ohr oder einen Stoppelbart tragen kann, dann gehen 
 solche und viele andere Entwicklungen sicher auf diese Zeit 
 zurueck und koennen zu einem guten Teil als Verdienst der 
 damals jungen Generation angesehen werden. Zwang und Enge 
 der fuenfziger Jahre, die sich damals aufzuloesen begannen, 
 sind fuer junge Menschen heute kaum noch vorstellbar.

       ------ Die Rede ist von Tugenden.

       Nun sind die Institutionen-Marschierer von damals 
 laengst angekommen. Sie haben ihre grossen und unerreichbaren 
 Plaene aufgegeben und erinnern sich sentimental an die 
 damalige Zeit. Was sie aber nicht aufgegeben haben sind 
 ihre Denkweisen. Diese wirken als Rudimente fort und koennten 
 angesichts der heute absehbaren Probleme durch die Anwendung 
 der Informations- und Kommunikationstechniken einmal mehr in 
 die Sackgasse fuehren.

       Die Informatik beginnt auf inneren und aeusseren Druck 
 zu entdecken, dass in ihrem Tun eine Verantwortung steckt, 
 die sie bisher zuwenig wahrgenommen hat. Nun schreitet der 
 Einsatz von Computertechnik jedoch schnell voran - es werden 
 taeglich neue Einsatzmoeglichkeiten entdeckt, und die Systeme 
 selbst entwickeln einen Grad der Komplexitaet, der fuer den 
 Menschen nicht mehr ueberschaubar ist. Die moeglicherweise 
 katastrophalen Folgen sind kaum absehbar. Angesichts solcher 
 Zustaende nimmt es nicht Wunder, dass sich auch unter Informa-
 tikern Ratlosigkeit ausbreitet. Die Frage nach der Verant-
 wortung wird entweder ignoriert oder oftmals mit hilflosen 
 Forderungen nach einer neuen Moral beantwortet. Man koenne 
 der Probleme nur Herr werden, wenn der Techniker sich ueber 
 sein Tun klar wird und selbiges nur an dem orientiert, was 
 fuer den Menschen als Wert wuenschenswert ist.

       Nun liegt darin aber eine doppelte Problematik. Sollte 
 man sich hinreissen lassen, einen Wertekodex definieren zu 
 wollen, so stellt sich die Frage, wer ueber ihn zu bestimmen 
 habe. Richtlinien von Standesorganisationen koennen sich 
 Entscheidungen ueber gesamtgesellschaftliche Fragen nicht 
 anmassen. Bliebe also die Loesung ueber politische Vorgaben, 
 wie sie sich vielleicht in Analogie zu den bekannten 
 Grenzwerten der Umweltgesetzgebung entwickeln liessen. Doch 
 neben der Schwierigkeit einer Operationalisierung (In wel-
 cher Einheit sollte man den Grad des informationstechnischen 
 Wissens-, Anwendungs- und Folgenstandes messen?) gaebe es das 
 offensichtliche Problem der Ueberforderung von Politikern, 
 die sich schon lauthals als Experten preisen lassen, wenn 
 sie die Funktion einer Enter-Taste begriffen haben.

       Der zweite Aspekt der Doppelproblematik liegt im Wesen 
 von Moral. Innerhalb der Informatik ist (zunaechst von 
 wenigen vorsichtigen Stimmen) die Forderung nach "Geboten" 
 zu hoeren, und es wird gar von der Notwendigkeit neuer 
 Tugenden gesprochen. Was sich aus solchen Vorstellungen 
 ergeben kann, klingt schon in den Begriffen an. Den Extrem-
 fall sehen wir exemplarisch in Buechners Robespierre, wenn er 
 fordert, dass die Tugend durch den Schrecken herrschen muesse. 
 Wo Vorstellungen von Moral Eingang in das Denken ueber 
 elementare Dinge finden, verlieren Werte wie Freiheit und 
 Menschenwuerde. Denn Tugenden kennen keine Toleranz; sie sind 
 an glaeubigen Gehorsam gewoehnt. Fuer individuelle Ideen der 
 Problemloesung oder neue Vorschlaege wird dann kein Platz mehr 
 sein.

       Aber das Dilemma setzt sich noch fort. Zunaechst mag 
 man eintretenden Schaeden noch mit Hilfe des "Versicherungs- 
 tricks" begegnen. Eine Haftpflichtversicherung fuer den 
 Betrieb von Computersystemen kann eventuelle Schaeden schnell 
 finanziell ausgleichen. Doch die Tragfaehigkeit eines solchen 
 Systems wird schnell schwinden. Denn die Informationstechnik 
 ist von dem Drang zu immer groesseren Strukturen gekennzeich-
 net; Computernetze sind auf dem Vormarsch. Es entsteht also 
 eine neue Art von Grosstechnologie, deren Aussmass bestenfalls 
 mit denen der Chemie- oder Atomindustrie zu vergleichen ist. 
 Offenbar scheint also auch die Informatik in Gebiete vorzu-
 stossen, wo die Beherrschbarkeit mit dem Hinweis auf fatale 
 Restrisiken relativiert werden muss. Es wird sich niemand 
 mehr finden, der solche Grossrisiken versichert.

       ------ Das Ergebnis ist Selbstberuhigung!

       Moeglicherweise kuendigt sich als Reaktion derzeit schon 
 ein Trend an, der schliesslich irgendwelche technischen 
 Abstrakta zu "guten" bzw. "schlechten" Systemen erklaert. 
 Nach Art von Gesetzbuechern liesse sich dann entscheiden, ob 
 ein Informatiker oder ein Unternehmen seine Verantwortung im 
 jeweiligen Falle verletzt hat. Leider kann ein solches 
 Vorgehen nicht vor negativen Wirkungen der Informations-
 technik schuetzen. Dies ist aus drei Gruenden so. Zunaechst ist 
 es eine alltaegliche Erfahrung, dass sich Personen von Taten 
 mit schaedlichen Folgen durch Strafen dann nicht zurueckhalten 
 lassen, wenn das mit Sanktionen belegte Tun ausgesprochen 
 lukrativ ist. Gerade die Informationstechnik wird auch in 
 Zukunft grosse wirtschaftliche Nutzenpotentiale beinhalten. 
 Zum Zweiten ist die Hemmschwelle fuer untugendhaftes Handeln 
 dann gering, wenn jemand davon ausgehen kann, dass ihm 
 fehlerhaftes Handeln kaum nachgewiesen werden kann. Wie etwa 
 sollte der Urheber und Emittent eines Computer-Virus ausfin-
 dig gemacht werden?

       Nun werden die Verfechter einer neuen Moral einwenden, 
 dass es nicht um Sanktionen gegen Personen geht, die bestimm-
 ten Vorstellungen zuwiderhandeln, sondern vielmehr darum, 
 den Menschen ein Bewusstsein zu vermitteln, dass sie dazu 
 veranlasst, bestimmte Wertvorstellungen aus eigener Ueberzeu-
 gung und Entscheidung zu vertreten. Gegen eine solche For- 
 derung ist zunaechst nichts einzuwenden, ja, sie muss sogar 
 begruesst werden, weil sie keinen unmittelbaren Zwang ausuebt 
 und somit der menschlichen Wuerde gerecht wird. Aber dennoch 
 muss deutlich gesagt werden, dass gerade aus dieser intrinsi-
 schen Motivation der dritte und vielleicht beunruhigenste 
 Grund gegen die Wirksamkeit moralischen Bewusstseins er-
 waechst. Es ist die menschliche Neigung zur selektiven Wahr- 
 nehmung der Welt - ein Phaenomen, das immer nur die anderen 
 betrifft, weil man es an sich selbst nicht bemerken kann.

       Nehmen wir nur eines der zahlreichen banalen wie 
 grotesken Beispiele, die uns im Alltag begegnen. Die Tragik 
 des gewaehlten Falles liegt darin, dass gerade ein verantwor-
 tungsbewusser Mensch in die Faenge psychischer Sperren geraet. 
 Stellen wir uns also einen klugen und liebenswerten Hoch-
 schullehrer der Informatik vor. Sein Hauptanliegen ist unter 
 anderem die Oekologie: unsere natuerlichen Lebensgrundlagen 
 muessen wiederhergestellt werden, was auch zentrales Ziel 
 einer aufklaerenden Informatik sein muss. Er will zu einer 
 Tagung in einer entfernten Stadt. Und er entscheidet sich 
 nicht fuer die relativ umweltfreundliche Bahn, sondern be-
 nutzt das Auto, weil es ja billiger sei...

       Natuerlich ist ihm laengst bewusst, dass gerade das Auto 
 eine eklatante (und nicht nur umweltoekologische) Fehlent-
 wicklung ist. Dennoch handelt er nicht nach seiner Erkennt-
 nis. Es muss bei der Benutzung des eigenen Wagens offenbar 
 eine andere Fragestellung beruehrt sein! Legen wir uns auf 
 die Einsicht fest, dass diese Bewusstseinsspaltung einem 
 Menschen nicht zum Vorwurf zu machen ist, so wird erkennbar, 
 dass vorhandenes Wissen und bestimmte Wertvorstellungen keine 
 unmittelbare Funktionalitaet im Hinblick auf die Abwendung 
 von Schaeden hat. Die einzige Schlussfolgerung, die hier 
 bleibt, ist truebe. Moralisches Bewusstsein leistet fuer den 
 einen das, was dem anderen schon die Unwissenheit vermit-
 telt: das reine Gewissen. Die Arbeit des Predigens und 
 Aufklaerens ueber die schlechten Dinge der Welt gewaehrt Ablass 
 und legitimiert das eigene unverantwortliche Tun.

       Die Frage nach der Ueberwindung einer solchen Laehmung 
 draengt angesichts der Entstehung einer neuen Schluesseltech-
 nologie, einer Technologie also, von der das Wohl und Wehe 
 unserer Zivilisation abhaengen wird. Nehmen wir den Einsatz 
 von Expertensystemen. Je komplexer sie werden, desto 
 geringer ist die Chance des Menschen, ihre Antworten zu 
 beurteilen. Die Beispiele sind hinlaenglich bekannt. Welcher 
 Arzt wird noch den Mut haben, sich gegen die Aussage eines 
 vielfach bewaehrten medizinischen Systems aufzulehnen. Denn 
 sollte die Ueberzeugung des Arztes nicht zum gewuenschten 
 Erfolg fuehren, so wird man ihn mit ernsten Konsequenzen 
 fragen, weshalb er nicht nach dem Rat des Systems gehandelt 
 habe. Nun kann man redundante Systeme vorschlagen, die 
 unabhaengig voneinander entwickelt werden und somit nicht 
 gleiche Fehler enthalten koennen. Doch wer wollte entschei-
 den, welchem System bei unterschiedlichen Ergebnissen Ver-
 trauen geschenkt werden soll? Es bleibt nur die Uebernahme 
 offenbar bewaehrter staatsphilosophischer Ueberlegungen: Las-
 sen wir die Mehrheitsmeinung der Systeme entscheiden.

       Bezeichnend ist, dass selbst die schaerfsten Kritiker 
 unsicherer informationstechnischer Systeme beginnen, elek-
 tronisch gespeichertes Wissen fuer automatische Analysen zu 
 verwenden. Ihre Argumentation lautet, dass etwa angesichts 
 der aus unsicheren Betriebssystemen entstehenden Virenpro-
 blematik keine andere Wahl bleibt, wenn man die auf solchen 
 Computern verarbeiteten Daten schuetzen will. Ist das ein 
 faustischer Pakt? Oder ist es Hilflosigkeit angesichts einer 
 explosionsartigen Verbreitung und Anwendung aeusserst unvoll-
 kommener Computertechnik? Denn eine moegliche Folge ist allen 
 bewusst: Der Versuch einer provisorischen Gefahrenabwehr 
 fuehrt dazu, dass die Anwender meinen, sich nunmehr in 
 Sicherheit wiegen zu koennen.

       ------ Unwirksame Vorschlaege

       Trotzdem darf sich kein Fatalismus ausbreiten. Dies 
 waere eine bedenkliche Reaktion auf Technik-Trends, deren 
 Weichen sich heute stellen. Doch es ist schwierig, Forderun-
 gen zu finden, die Gefahren abwenden koennten. Und wenn man 
 sie formuliert, so erscheinen sie zu banal, als dass an ihre 
 Wirksamkeit geglaubt werden koennte. Denn unsere Sinne straeu-
 ben sich, in kleinen Dingen Ursachen fuer umfassende Struktu-
 ren zu sehen. Bei der Beobachtung der universitaeren Informa-
 tik-Ausbildung faellt auf, dass die Studenten mit Lehrstoff 
 und Uebungsaufgaben ueberschwemmt werden. Wenn sie ihre Aufga-
 ben bewaeltigen wollen, so sind sie zum Pfuschen gezwungen, 
 denn es bleibt kaum Zeit, ueber Problemloesungen eingehend 
 nachzudenken. Dies fuehrt zu einer Mentalitaet, die program-
 miertechnischen Wildwuchs zutage foerdert. Die Appelle der 
 Lehrenden, einen gut dokumentierten und ueberschaubaren Ent-
 wurf abzuliefern, muss da als Alibi-Absonderung im Winde 
 verhallen.

       Unter den Studenten macht das Wort von der "experimen- 
 tellen Informatik" die Runde. Weil keine kompetenten An-
 sprechpartner zur Verfuegung stehen, oder das schlechte 
 universitaere Klima es verbietet, stellen die Studenten ihre 
 Fragen kurzerhand an den Rechner, indem eine vermeintliche 
 Loesung einfach ausprobiert wird. Vermittelt der Augenschein 
 das richtige Funktionieren, so gilt das Experiment als ge- 
 glueckt. Auf das Verstaendnis fuer die Loesung und die Beurtei- 
 lung ihrer Tragfaehigkeit kommt es dann nicht mehr an. Und so 
 sind Nichtnachvollziehbarkeit und Fehleranfaelligkeit pro- 
 grammiert. Dies ist umso gefaehrlicher als eine Reflexion 
 ueber den Zweck eines Programms gar nicht angestellt wird.

       Es fehlt also an etwas, dass man die Emanzipation des 
 Informatikers nennen koennte. Die Forderung wuerde lauten: Der 
 reine Techniker, der auf Vorgaben aus Politik und Wirtschaft 
 blind zu arbeiten beginnt, muss der Vergangenheit angehoeren, 
 wenn die grosstechnische Informatik nicht zur ernsthaften 
 Beeintraechtigung unseres Lebens werden soll. Informatiker 
 muessten sich ein Bewusstsein ueber die Konsequenzen ihrer 
 Technologie verschaffen. Doch bei naeherer Betrachtung ist 
 dieser Gedanke nicht unproblematisch. Eine reine Emanzi- 
 pation wuerde lediglich eine ausgeweitete Entscheidungs- 
 kompetenz derjenigen bedeuten, die eine informationstechni- 
 sche Ausbildung besitzen. Dabei besteht die Gefahr, dass 
 statt wirtschaftlichen oder sozialen Aspekten die techni- 
 schen staerker in den Vordergrund treten. Denn es laesst sich 
 sicher nicht leugnen, dass Informatiker zunaechst von rein 
 technischen Aspekten getrieben sind.

       ------ Mit dem Leitbild in die Katastrophe

       Die Gefahr liegt also im reinen Ingenieur-Zustand des 
 Informatikers. Diesem entgegenzuwirken waere eine Grund-
 voraussetzung, wenn man Hoffnungen in eine bessere Gefah-
 renabwendung durch die Informatiker selbst setzt. Nun gibt 
 es in der eingangs genannten Personengruppe die Ueberzeugung, 
 dass es darauf ankomme, positive Leitbilder zu schaffen, an 
 denen sich Informationstechnik dann orientieren wuerde. 
 Solche Leitbilder koennten etwa bestimmte soziale Anforderun-
 gen beinhalten. Die Hoffnung besteht darin, dass eine Vor-
 stellung von erstrebenswerten Zustaenden den Informatikern 
 helfen koennte, Systeme zu schaffen, die dem Menschen gerecht 
 wuerden. Die Gefahr risikoreicher Technologie koennte somit 
 vermieden werden.

       Die Erfahrung lehrt, dass diese Hoffnung truegt. Gerade 
 das Streben nach Verwirklichung grosser Zielvorstellungen, 
 wie Utopisten sie immer wieder in grossen Gemaelden der 
 Phantasie dargelegt haben, ist hochgefaehrlich. Es fuehrt in 
 Sackgassen. Denn wer euphorisch auf dem Weg ist, schaut auf 
 die Erfolge und vergleicht sie stolz mit der zu verwirk-
 lichenden Idee. Einen Blick auf die zunaechst unbedeutend 
 erscheinenden negativen Nebenwirkungen gibt es nicht. Ein 
 eklatantes Beispiel fuer die fatalen Folgen der Verwirkli-
 chung einer menschenfreundlichen Utopie sehen wir heute im 
 Automobil. Niemand konnte der Idee widersprechen, dass ein 
 Kraftwagen im Besitz eines jeden Haushaltes den Menschen aus 
 der Enge und Tristheit seiner eingeschraenkten Bewegungsmoeg-
 lichkeiten befreien koennte. Der geplagte Stadtmensch wuerde 
 am Wochende hinaus in die frische und freie Natur aufbre-
 chen. Menschen wuerden einander begegnen, weil sie mit dem 
 Automobil schneller beieinander sind.

       Aber niemand konnte oder wollte die vielfaeltigen 
 Folgen sehen, die sich neben den positiven Leitvorstellungen 
 einstellen mussten (vgl. Chalisti vom 1. Juni 1991: "Wir 
 leben laengst im Cyberspace"). Heute haben wir die Pest in 
 den Staedten, und niemand kann einen Ausweg weisen, da der 
 individuelle Kraftverkehr laengst in die Gesamtzivilisation 
 eingebaut ist. Die vielfachen Abhaengigkeiten schaffen offen-
 bar vollendete Tatsachen. Die zynische Antwort auf die 
 taegliche Beeintraechtigung des Lebens durch Laerm usw. sowie 
 die zehn- oder zwoelftausend zerquetschten und verkohlten 
 Todesopfer lautet: Es ist der Preis des Fortschritts.

       Und genauso wird es mit der Informatik kommen. An 
 positiven und segensreichen Leitbildern fehlt es auch ihr 
 nicht, und das formulierte Ziel steht ganz analog zum 
 Strassenverkehr. Gefordert wird die "Gleichheit der Chancen 
 fuer die Welt der kognitiven Prozesse". Dies sei eine gewal- 
 tige Aufgabe, deren Umsetzung unter Umstaenden Jahrzehnte 
 dauern kann. So nebuloes die Forderungen bei genauerer 
 Betrachtung sind, so wahrscheinlich ist auch, dass eine 
 Sackgasse betreten wird. Das Bemuehen um ein im Gegensatz zu 
 amerikanischen Trends differenzierteres und durchdachteres 
 Leitbild mit moralischem Anspruch zeigt seine schlimmen 
 Folgen erst Generationen spaeter. Im Strassenverkehr haben wir 
 heute den Zustand, dass Kinder mit kiloschweren Rucksaecken - 
 Expeditionstraegern gleich - auf den mit toedlichen Gefahren 
 gepflasterten Schulweg geschickt werden. Derweil setzt sich 
 Papi in den tonnenschweren Wagen und brettert los zum 
 Arbeitsplatz. Unterwegs faehrt er hier und da an kleinen 
 Holzkreuzen und verwelkten Blumenstraeussen vorbei...

       Fuer die Opfer der Computertechnik werden keine Pixel-
 Kreuzchen auf den Bildschirmen erscheinen. Nun kaeme seitens 
 kritischer Informatiker folgender Einwand: Wenn uns gerade 
 durch die Informatik in der Zukunft Gefahren drohen, so waere 
 es doch unverantwortlich, wenn wir nicht wenigstens den 
 Versuch machen wuerden, positive Vorstellungen zu entwickeln. 
 Und in der Tat kann der Eindruck entstehen, dass die hier 
 unternommene Argumentation auf einen reinen Fatalismus oder 
 auf strikte Verweigerungshaltung gegenueber informationstech-
 nischem Fortschritt hinauslaeuft. Dies aber muss als Irrtum 
 zurueckgewiesen werden. Hier geht es um die Warnung vor der 
 schleichenden Katastrophe, die mit den bisher vorgeschlage-
 nen Mitteln nicht zu bekaempfen ist. Zwei Hauptgesichtspunkte 
 sind dabei zu beachten. Zunaechst darf nicht uebersehen 
 werden, dass Informationstechnik (wie viele andere Lebensbe-
 reiche auch) der wirtschaftlichen Dynamik unterliegen. 
 Weiterhin muss in aller Deutlichkeit die Frage gestellt 
 werden, ob der Gestaltungswillen allein den Informatikern 
 ueberlassen werden darf.

       Die Computer haben innerhalb der letzten zehn Jahre in 
 grossem Stil Einzug in die industrielle Fertigung gehalten. 
 Sie haben Logistik und Distribution revolutioniert sowie die 
 Arbeit in den Bueros veraendert. Es gibt also offensichtlich 
 deutliche Vorteile durch Rationalisierung. Vorteile ergeben 
 sich besonders aus dem Austausch von Informationen in einem 
 grossen System. Es reicht nicht, von der Abbildung bisheriger 
 Organisationsstrukturen auf Computer zu sprechen, denn deut- 
 lich vergroesserter und differenzierterer Informationsaustausch 
 oeffnet Tore zu ganz neuen Strukturen. Ohne hier eingehendere 
 Betrachtungen anstellen zu wollen, kann gesagt werden, dass 
 Informationstechnik zu umfassenden, grossraeumig vernetzten 
 Systemen fuehrt, deren Ueberschaubarkeit sich verringert. Die 
 oft gehoerte Forderung nach kleinen und nachvollziehbaren An- 
 wendungen liegt nicht im Wesen wirtschaftlicher Systeme.

       ------ Auf dem Weg zum Standesduenkel

       Gleichzeitig werden Sicherungsmassnahmen aus Kosten- 
 oder strukturellen Gruenden nicht vorgenommen. Die Anwender 
 muessen sich auf ein bestimmtes System festlegen und koennen 
 anschliessend nicht ohne Weiteres umsteigen. Die Anbieter 
 versuchen ihrerseits die Gewinnmoeglichkeiten einer Technik 
 moeglichst lange auszunutzen. Erst wenn die Fehler der Sys- 
 teme unertraeglich werden, beginnt sich ein Markt fuer 
 Sicherheitstechnik zu entwickeln. Die Rolle der Prediger und 
 Warner ist aeusserst schwer einzuschaetzen. Die interessante 
 Frage lautet, inwieweit Bewusstsein unabhaengig von Kostenge- 
 sichtspunkten das Design bestimmen kann. Moeglicherweise sind 
 viele Kostenrechnungen von vornherein Makulatur und dienen 
 nur der Rechtfertigung einer Idee, die zunaechst nicht ratio- 
 nal begruendet werden koennte.

       Aber gerade wenn Wahrheit heute beschlossen werden 
 muss, spielen Leitvorstellungen eine entscheidende Rolle. 
 Einfluss haette also derjenige, der in der Lage ist, bestimmte 
 Zielvorstellungen in die Ideenwelt der Verantwortungstraeger 
 zu befoerdern. Aber Einfluss bedeutet noch nicht die Macht zur 
 Gestaltung. Wenn Informatiker glauben, wuenschenswerte Tech-
 nologien seien exakt planbar, so muss auf die Sozialwissen-
 schaften verwiesen werden, die laengst eingesehen haben, dass 
 die Planbarkeit von umfassenden Idealvorstellungen aeusserst 
 gering ist.

       Die Informatik ist eine vergleichsweise junge Wissen-
 schaft. Sie beginnt Anstrengungen zu unternehmen, ihren 
 Platz zu finden. Dies wird durch den Umstand erschwert, dass 
 sie die Schluesseltechnologie unserer Zeit liefert und sich 
 somit grossen Erwartungen gegeuebersieht. Da Geld und Anerken-
 nung winken, lohnt es fuer viele Informatiker nicht, Gedanken 
 an die Folgen zu verschwenden. Doch die Zweifel sind gewach-
 sen. Es wird die Forderung laut, Informatiker muessten sich 
 staerker mit den vielfaeltigen sozialen Auswirkungen beschaef-
 tigen, diese diskutieren und somit schon im Vorfeld Schwie-
 rigkeiten entgegenwirken. Die Frage ist nunmehr, ob die 
 Informatik damit nicht ueberfordert ist.

       In der oeffentlichen Meinung ist das Vertrauen in den 
technischen Fortschritt ruecklaeufig. Es setzt sich die Ein-
sicht durch, dass fuer jede Entwicklung auch ein Preis zu 
zahlen ist. Wahrscheinlich ist dieser Trend auch Ursache des 
Auftauchens kritischer Fragen innerhalb der Informatik. Diese 
auf den ersten Blick zu begruessende Entwicklung birgt aber die 
Gefahr der drohenden (Selbst-)Isolation der Informatik. Es 
ist geradezu ein Gemeinplatz, dass es in der Natur von Insti- 
tutionen liegt, dass sie nur ueber bestimmte Schnittstellen mit 
ihrer Umwelt in Kontakt treten. Wird ein neues Problem ueber- 
haupt wahrgenommen, so erklaeren sie sich fuer nicht zustaendig, 
oder es wird versucht, das Problem innerhalb des Systemrah-
mens zu loesen.

       Und da liegt der heikle Punkt. Die Folgen der Einhal-
 tung des Systemrahmens "Informatik" koennte zu einem neuarti-
 gen Standesduenkel fuehren, indem man meint, alle Probleme 
 selbst loesen zu koennen. Da kaum zu vermuten ist, dass 
 naturwissenschaftlich ausgebildete Fachkraefte ein ausrei-
 chendes Gespuer fuer soziale oder wirtschaftliche Frage-
 stellungen entwickeln, bleibt die Forderung nach der Wahr-
 nehmung von Verantwortung innerhalb der Informatik zweifel-
 haft. Eine weitere Differenzierung und Spezialisierung 
 bestehender Institutionen erscheint heute ebenfalls unzurei-
 chend. Denn ausschliessliche Fachbezogenheit von umfassenden 
 Gestaltungsvorstellungen bedeutet eine neue Form der Techno-
 kratie. Dies waere eine Entwicklung, die nicht hingenommen 
 werden kann. Es kommt heute darauf an, neuartige gesell-
 schaftliche Organisationsformen zu finden, welche den Pro-
 blemen unserer fortschreitenden technischen Zivilisation 
 gerecht werden.

       ------ Die neue Moderne schaffen

       Seit Mitte der siebziger Jahre haben sich Organi-
 sationsformen herausgebildet, die unter dem Begriff "neue 
 soziale Bewegungen" zusammengefasst werden. Ihnen ist es 
 gelungen, vielfaeltigste Probleme und Fragestellungen in das 
 oeffentliche Bewusstsein zu transportieren. Der Vertrauens-
 schwund des unausgereiften Btx-Systems etwa geht sicher 
 nicht zuletzt auf die spektakulaeren Aktivitaeten von Personen 
 zurueck, die diesen Bewegungen zuzurechnen sind. Ihnen ist es 
 gelungen, eine Kontrollfunktion wahrzunehmen, die anderen 
 Institutionen innerhalb der Gesellschaft offensichtlich 
 nicht zur Verfuegung stand. Es kann aber nicht uebersehen 
 werden, dass die neuen sozialen Bewegungen heute moeglicher-
 weise an die Grenzen ihrer Leistungsfaehigkeit stossen, weil 
 oeffentliches Bekanntwerden von Missstaenden nicht ausreicht. 
 Blossgestellte Institutionen sind in der Lage, Schwaechen und 
 Fehler zu kaschieren bei gleichzeitiger Verbesserung der 
 Abschottung gegenueber Aussenstehenden.

       Die zunehmende Komplexitaet und Verwobenheit techni-
 scher und sozialer Zusammenhaenge erfordert neue Organisa-
 tionsformen, welche die Isolation unterschiedlichster Insti-
 tutionen aufhebt. Es bedarf eines offenen und fuer jeden 
 Interessierten zugaenglichen Forums, das Personen zunaechst 
 informell zusammenfuehren kann. Kommunikation, die - dem 
 Platzen einer Sporenkapsel gleich - auf das zufaellige 
 Erreichen passender Adressaten setzt, muss durch andere 
 Konzepte ergaenzt werden. Die Technik der Mailboxen bietet 
 die Moeglichkeit dazu. Doch waere es verfehlt, eine isolierte 
 Gegenkommunikation nach dem Muster von Presseagenturen auf-
 bauen zu wollen. Diese Vorstellung zeigt sehr deutlich, dass 
 der technischen Ingenieurleistung der Bereitstellung von 
 Kommunikationssoftware noch keine angemessenen Ideen ueber 
 die ungeahnten Moeglichkeiten der Nutzung dieser neuen Tech-
 nik gefolgt sind. Nur wenn unser Gemeinwesen eine verfei-
 nerte und gleichzeitig uebergreifende Organisationskultur 
 entwickelt, wird sie den zukuenftigen Risiken der Computer-
 Zivilisation einigermassen gewachsen sein. Dazu bedarf es der 
 Fantasie unterschiedlichster Menschen. Moralische Informati-
 ker allein reichen keinesfalls!

 Von Frank Moeller, Oktober 1991
 F.MOELLER@LINK-HH.ZER

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