[Chaos-Knoten]12. Chaos Communication Congress '95


Ergänzung zu "Androzentrismus in Netzen"

"...und immer an den Leser denken!" Diese markigen Worte mißachten eine breite Schicht von Zeitungskäuferinnen. Vielleicht meinte Focus-Macherin Markwort, daß Fauen zu intelligent für sein Magazin seien, aber wahrscheinlicher ist, daß er - wie es bis vor zehn Jahren üblich war - Frauen in der Sprache ausgrenzt.

Rena Tangens hielt in Hamburg auf dem 12. Chaos Communication Congress einen Vortrag zum Thema "Androzentrismus in Netzen". Männliche Dominanz als Problem, das als Problem noch nicht überall erkannt ist. Auf die Feminisierung der Sprache ist sie bei diesem Vortrag nicht eingegangen; deswegen wird als Ergänzung dieser Text verteilt.

Die Textstellen können für sich alleine stehen und dem einen oder der anderen vielleicht einige Anregungen geben, über das Thema Sprache einmal unter anderen Gesichtspunkten nachzudenken.


Die folgenden drei Texte stammen aus dem Buch

"Das Deutsche als Männersprache" von Luise F. Pusch
edition suhrkamp, Frankfurt/M., 1984


Einleitung

In meinem Paß steht: "Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher." Ich bin aber kein Deutscher. Hätte ich je in einem Deutschaufsatz geschrieben, ich sei "Deutscher", so wäre mir das Maskulinum als Grammatikfehler angestrichen worden.

Ich bin Deutsche. Es müßte also heißen: "Der Inhaber dieses Passes ist Deutsche." Nein, das ist auch falsch. Zwar gilt es nicht als Fehler, wenn ich, obwohl weiblich, über mich sage: "Ich bin der Inhaber dieses Passes." Genauso korrekt ist aber Inhaberin. Und zusammen mit Deutsche ist nur Inhaberin richtig: "Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche."

Im Paß meines Bruders steht derselbe Satz wie in meinem. Er hat sich nie daran gestört. Wieso sollte er auch? Der Satz ist ihm auf den Leib geschneidert. Aber wenn da stünde "Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche", so wäre das nicht nur falsch, sondern eine Katastrophe. Die Paßbehörden würden sich vor Männerbeschwerden kaum retten können, denn welcher Mann läßt sich schon gern "Inhaberin" und "Deutsche" schimpfen?

Weibliche Bezeichnungen sind für Männer genauso untragbar wie weibliche Kleidungsstücke. Und doppelter Papierkrieg ist für Behörden zu aufwendig, also werden uns Frauen die männlichen Bezeichnungen zugemutet. Es ist die einfachste Lösung. Frauen sind erstens geduldig, und zweitens sind männliche Bezeichnungen sowieso viel schöner und kürzer und praktischer und irgendwie edler und überhaupt allgemeiner.

Ich bin Linguistin. Oder bin ich Linguist? Mal bin ich dies, mal jenes; ich habe mich längst daran gewöhnt. Eins aber steht fest: Meine Mutter war Sekretärin und nicht Sekretär. Sie hat den Sekretärinnenberuf ausgeübt und führt jetzt ein Rentnerdasein. Oder ist es ein Rentnerinnendasein? Schließlich führen Rentnerinnen ein ganz anderes Dasein als Rentner. - Meine Mutter ist vielleicht eine Ausnahme; sie ist Studentin der Philosophie - oder auch Student. Mal dies, mal jenes.

Ich stelle fest: Meine Muttersprache ist für Männer bequem, klar und eindeutig. Das Reden über Männer ist völlig problemlos in dieser Männersprache. Schwierig, kompliziert und verwirrend ist nur das Reden über Frauen. Mutter Sprache ist auf meine Existenz etwa so gut vorbereitet wie Vater Staat auf die Existenz von Behinderten. Als "Problemgruppe" dürfen wir uns mit offenkundigen Behelfslösungen herumschlagen, die als "Grammatik" nicht weiter diskutiert werden. Denn schließlich: Wer wäre auch für Grammatik verantwortlich zu machen?
(...)

Die herkömmliche Linguistik kritisiert Sprache nicht, sondern beschreibt sie. Und mit dem Beschreiben allein hat sie tatsächlich reichlich zu tun, denn Sprachen sind äußerst komplizierte Systeme, über die wir erst sehr wenig wissen.

Die Linguistik erlegt sich dies Selbstbeschränkung vermutlich auch deswegen auf, weil sie etwas vom Glanz der Naturwissenschaften erben möchte. Die Naturwissenschaften beschränken sich bekanntlich auf beschreibendes Erklären ihrer Gegenstände, da Kritik sinnlos ist. Sprache aber ist kein Natur-, sondern ein historisch- gesellschaftliches Phänomen und als solches auch kritisier- und veränderbar. Nach Auffassung von Feministinnen nicht nur kritisierbar, sondern extrem kritikbedürftig - und reformbedürftig.

Es bedurfte wohl radikalfeministischer Verve, Unbekümmertheit, Subjektivität und entschlossener Parteilichkeit, um zu dieser Auffassung über Sprache zu kommen. Sonst hätte sie sich kritikfähigen Frauen sicher schon eher aufgedrängt. Es ist aber nicht nur die herkömmliche Linguistik, die solche Gedanken nicht gerade fördert, sondern auch unser aller Alltagsbeziehung zu Sprache. Sprache wird uns im Kindesalter einverleibt etwa nach dem Motto: "Was auf den Tisch kommt, wird gegessen." Zwar lernen wir, daß wir "schmutzige" Ausdrücke nicht verwenden und mir und mich nicht verwechseln sollen, aber daß wir uns von uns aus etwas Sprachliches rundheraus ablehnen könnten, wird uns weder beigebracht noch vorgemacht. Eine "natürliche" Ausnahme bilden die Eigennamen. Manche mögen bestimmte Namen einfach nicht leiden. Ich z.B. finde Yvonne "affig" und würde ungern so heißen (alle Yvonnen mögen mir verzeihen!). Aber es wäre mir von allein niemals eingefallen, gegen ein Pronomen (man), eine Endung (-in) oder gegen ein Genus (Maskulinum) zu rebellieren. Dergleichen sprachliche Einheiten sind für die meisten so abstrakt und außerbewußt, daß sie dafür überhaupt keine Gefühle, weder positive noch negative, entwickeln können.

Jedenfalls galt das bis vor kurzem für die meisten Frauen. Männer dagegen waren schon immer emotionaler. Es gibt für sie einen allergischen Punkt in der Sprache: Das Femininum. Wird ein Mann als Verkäuferin, Hausfrau, Fachfrau, Beamtin, Ärztin, Dame, Deutsche, Inhaberin o.ö. bezeichnet, so bringt ihn das völlig aus der Fassung. Es ist ihm etwa so gräßlich, wie wenn er mit Vornamen Rosa hieße oder neckisch in den Po gekniffen würde.

Die Folgen der männlichen Allergie gegen das Femininum ist dessen nahezu vollständige Verdrängung aus der Sprache, mit anderen Worten: die sprachliche Vernichtung der Frau, denn ihre genuine sprachliche Existenzform ist das Femininum. Es fängt scheinbar harmlos an: Wenn Ute Schülerin ist und Uwe Schüler, dann sind Ute und Uwe Schüler, nicht Schülerinnen - denn Uwe verträgt das Femininum nicht. Es geht und geht nicht an, ihn mit derBezeichnung "Schülerin" zu kränken, selbst wenn -zig Schülerinnen seinetwegen zu Schülern werden müssen. Da bereits ein Knabe mittels seiner Allergie beliebig viele Mädchen sprachlich ausschalten kann, kann frau sich leicht ausrechnen, was die männliche Hälfte der Bevölkerung gegen die weibliche ausrichten kann. Ein Wunder, daß wir überhaupt noch hin und wieder einem Femininum begegnen. (Für Besserwisser: Ich beziehe mich selbstverständlich auf feminine Personenbezeichnungen und nicht auf Feminina wie die Neutronenbombe.)
(...)


Von Menschen und Frauen

"Wer ja sagt zur Familie, muß auch ja sagen zur Frau." Helmut Kohl, 1983

  1. Meditation über ein Kanzlerwort
  2. "Wer A sagt, muß auch B sagen", so lautet ein deutsches Sprichwort. Mir wurde es zum erstenmal entgegengehalten, als ich lieber spielen wollte als auf meine kleine Schwester aufzupassen. Hatte ich mir nicht ein Schwesterchen gewünscht? Nun, dann hatte ich gefälligst auch die Unbequemlichkeit in Kauf zu nehmen.

    Unser Kanzler hat den deutschen Sprachschatz um eine bedeutsame Variation dieses Sprichwortes bereichert. Aus dem dürren "Wer A sagt..." macht er ein strahlendes "Wer ja sagt..." - aber das harte Wort muß blieb!

    Niemand wird freilich gezwungen, A zu sagen bzw. ja zur Familie. Erst wenn - freiwillig! - ja zur Familie gesagt wird, muß auch in den sauren Apfel B gebissen, das Ja zur Frau gesagt werden.

    Mir als Frau will es allerdings nicht in den Kopf, daß das Ja zur Frau vom Ja zur Familie abhängig ist wie das B-Sagen vom A-Sagen. Sagen wir - als Menschen - nicht geradezu zwangsläufig ja zum Menschen, egal ob wir zur Familie ja oder nein sagen? Wieso braucht es überhaupt neben dem unbedingten Ja zum Menschen noch ein bedingtes Ja zur Frau?

    Ich muß den Kanzler mißverstanden haben. Vielleicht meint er mit Frau nicht die Frau im allgemeinen, sondern die Ehefrau.

    Also nochmal: "Wer ja sagt zu seiner Familie, muß auch ja sagen zu seiner Frau." - Ich hänge an meinen Eltern und Geschwistern. Doch, ich sage ja zu meiner Familie. Aber nicht zu meiner Ehefrau, denn ich habe keine.

    Das also kann der Kanzler nicht gemeint haben.

    Es bleibt also nur ein Schluß: Der Kanzler hat nicht zum Volk gesprochen, sondern zu sich selbst. Er hat sich ermahnt, ja auch zu seiner Frau zu sagen, weil er ja zum Rest seiner Familie sagt.

    Das ist schön von ihm, aber hätte er sich nicht etwas präziser ausdrücken können? Etwa so: "Wenn ich ja zu meiner Familie sage, muß ich auch ja zu meiner Frau sagen." Auch diese Version ist noch eigentümlich, weil das Ja zu seiner Familie nach gängiger Logik seine Frau einschließt - aber trotzdem: damit wäre mir schon viel Grübeln erspart geblieben.

    Aber möglicherweise klang ihm das zu privat, nicht staatsmännisch genug. Was er sich selbst zurief, wollte er als Landesvater zugleich allen Landeskindern zurufen. Nur hat er dabei vergessen, daß nicht alle Landeskinder, die ja zur Familie sagen, auch ja zu ihrer Frau sagen können, weil nämlich viele keine haben. Frauen haben keine Frau, Kinder haben keine, unverheiratete Männer haben keine.

    Das sind schätzungsweise 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung, die er da vergessen hat. Wie konnte das geschehen?

  3. Der Mensch in seinem Widerspruch
  4. Helmut Kohl hat überhaupt nicht 70 bis 80 Prozent vergessen, sondern nur etwa 15 Prozent: die männlichen Kinder und die unverheirateten Männer. Die restlichen ca. 53 Prozent sind Mädchen und Frauen, und die hat er nicht vergessen, sondern nicht mitgerechnet.

    Mit "Wer ja sagt zur Familie" sind nicht Tiere oder Gegenstände gemeint, sondern Menschen. Nur Menschen können ja sagen. Und alle Menschen, die ja sagen zur Familie, sind gemeint.

    Was nun die Frauen betrifft, so steht bis heute nicht eindeutig fest, ob sie Menschen sind. Bekanntlich stehen in der Bibel zwei verschiedene Schöpfungsberichte, und ausgerechnet in diesem zentralen Punkt, ob die Frau nun ein Mensch sei oder nicht, widersprechen sie sich und lassen uns mit dem Widerspruch allein in alle Ewigkeit.

    In Genesis 1.27 heißt es: "Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib." Schuf Gott nun einen oder zwei Menschen? Die Stelle ist sprachlich etwas seltsam.

    In Genesis 2 ist nur von einem Menschen die Rede, von dem Menschen:

    (7) Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.
    (8) Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setze den Menschen hinein, den er gemacht hatte.
    (16) Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach...
    (18) Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.
    (22) Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.
    (23) Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum daß sie vom Manne genommen ist.

    Das Wort Mensch (hebr. adam) hat also in der Bibel zwei Bedeutungen. Aus Genesis 1.27 folgt, daß Männer und Frauen Menschen sind. Beide zusammen sind Ebenbild Gottes. Aus Genesis 2 folgt dagegen, daß der Mensch ein Mann ist und daß es neben dem Mensch als seine Gehilfin noch "das Weib" bzw. "die Männin" gibt. Ihr blies Gott keinen lebendigen Odem in die Nase. Ob sie also wie der Mensch eine lebendige Seele ist, muß bezweifelt werden. Aber "menschlich" darf sie wohl genannt werden, denn sie ist ja Fleisch vom Fleisch des Menschen, und wir unterscheiden uns ja auch sonst streng zwischen menschlichen und tierischen Produkten.

    Vom Menschen in Genesis 2 wird übrigens nicht gesagt, daß er das Ebenbild Gottes ist.

    Der Widerspruch zwischen Genesis 1 und 2 ist unauflöslich, und die Folge davon ist: Unklarheit, Unsicherheit über den Status der Frau, und zwar in Permanenz, von den Anfängen bis heute. Ein ungeheuer diffiziles Problem, auch sprachlich: Als Tier oder Pflanze kann die Frau nicht eingestuft werden, denn die Bibel sagt ja klipp und klar, sie sei ein Mensch. Als Mensch kann sie aber auch nicht eingestuft werden, denn die Bibel sagt ebenso klipp und klar und wiederholt es nachdrücklich: Der Mensch ist der Mann.

    Die sprachliche Lösung, die für dieses Problem gefunden wurde, kann nicht anders als genial bezeichnet werden. Eine global und seit Urzeiten gültige Sprachregelung sorgt dafür, daß die Bezeichnungen für die Bestimmt-Menschen (Männer) wahlweise die Vielleicht-Menschen (Frauen) einschließen können. Wir empfinden das zwar durch die lange Gewohnheit als selbstverständlich oder banal, keineswegs als "genial" - es ist aber trotzdem einzigartig und auch die einzige Möglichkeit, mit dem uns auferlegten Widerspruch zu leben, ihn lebendig zu erhalten, statt ihn eigenmächtig zu leugnen oder wegzudefinieren, wie wir es sonst so gern mit Widersprüchen tun. Wir hätten ja, in dem verständlichen Streben nach Widerspruchsfreiheit, einfach einseitig beschließen können, daß der Begriff "Mensch" auf Frauen zutrifft oder aber nicht zutrifft, ähnlich wie wir die Männer immer ein- und die Tiere immer ausschließen und dort kein Kuddelmuddel dulden. Sätze über Menschen, die Männer aus- oder Tiere einschließen, lehnen wir als abweichend oder unsinnig strikt ab:

    ? Alle Menschen werden Schwestern.
    ? Mit der Geschlechtsreife wird der Mensch gebärfähig.
    ? Die Deutschen sind tüchtige Hausfrauen.
    ? Manche Menschen gebären lebendige Junge, andere legen Eier.
    ? Die Menschen bewegen sich auf zwei oder vier Beinen oder mit Hilfe von Flossen oder Flügeln fort.

    Anders bei Frauen. Sie können entweder ein- oder ausgeschlossen werden. Beides ist recht:

    Alle Menschen werden Brüder.
    Portugiesen behandeln Frauen schlecht.
    Die Deutschen sind tüchtige Soldaten.
    Ein Mensch ohne Frau ist überhaupt kein Mensch.
    Die Menschen unterscheiden sich von den Tieren durch ihre Sprachfähigkeit.
    Beim Menschen spricht man nicht von "Männchen und Weibchen", sondern von "Mann und Frau".

    Im "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben, das wir "Deutschlandlied" nennen, heißt es in der zweiten Strophe:

    Deutsche Frauen, deutsche Treue,
    Deutscher Wein und deutscher Sang
    Sollen in der Welt behalten
    Ihren alten schönen Klang,
    Uns zu edler Tat begeistern
    Unser ganzes Leben lang:
    Deutsche Frauen, deutsche Treue
    Deutscher Wein und deutscher Sang.

    Ähnlich wie die Gehilfin des Menschen "menschlich" genannt werden darf, dürfen die Frauen der Deutschen "deutsch" genannt werden. Die Deutschen lassen sich von deutschen Frauen zu edler Tat begeistern. Auch deshalb sagen sie ja zur Frau, nicht nur weil sie ja zur Familie sagen, Herr Bundeskanzler!

    Und weil das alles möglich, üblich und rechtens ist in unserer Sprache, sagen wir Frauen nein zu dieser Sprache.


Wahrgenommenwerden, Beachtetwerden, Identifiziertwerden und Gemeintsein

(...) Es ist für alle Menschen existentiell wichtig, von anderen Menschen wahrgenommen, beachtet und in ihrer Identität bestätigt zu werden. Das wissen wir alle aus Erfahrung: Wir sind irritiert bis verletzt, wenn wir von Leuten, die uns persönlich kennen, mit falschem Namen angesprochen werden (Fehlidentifikation); wir vertragen es nicht, wenn man im Krankenhaus von uns als "dem Magengeschwür auf Zimmer 217" spricht; wir erleben oft den berechtigten Zorn und / oder Verzweiflung von Kindern, die von Erwachsenen nicht wahrgenommen werden und nun mit allen Mitteln versuchen, auf sich aufmerksam zu machen, oft sogar nach der Devise: "Besser unangenehm als gar nicht auffallen." Politisch machtlose und deshalb nicht wahrgenommene Gruppen greifen nach derselben Devise in letzter Zeit immer häufiger zum Terror. (...)

Identifiziertwerden ist also die Voraussetzung zur Gewinnung einer Identität, die wiederum die Voraussetzung für psychisches, soziales, wenn nicht sogar biologisches Überleben ist (vgl. Durkheims Studie über Anomie und Selbstmord (1897)). Bestätigung der Identität durch andere (Richtig-Identifiziertwerden) ist notwendig zur Bewahrung und Aufrechterhaltung dieser Identität. Frauen befanden und befinden sich aber häufig in der schizophrenogenen Lage, daß ihnen sogar die Identität "menschliches Wesen" nicht bestätigt wurde oder wird (von anderen Teilen ihrer jeweiligen Gesamtidentität zu schweigen) - einfach deswegen, weil sie als Mitglieder der Spezies Mensch und anderer Gruppen, denen sie faktisch angehören, nicht wahrgenommen werden. Ich bringen zunächst zwei Beispiele:

Erstes Beispiel: Mit dem du (du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, etc.) der Zehn Gebote soll sich die ganze Menschheit angesprochen fühlen, so lehrt uns die Kirche. Doch beim zehnten Gebot dann, Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib etc., muß frau schließen, daß sie mit dem du nicht gemeint ist (es sei denn, sie ist lesbisch), daß sie somit wahrscheinlich auch in den anderen Geboten nicht gemeint war und daß sie folglich als Mensch überhaupt nicht wahrgenommen wurde, wohl aber als Besitz des Menschen = Mannes - auf einer Stufe mit seinem Haus, Acker und Vieh. (...)

Was hat das alles mit Sprache zu tun? Sehr viel. Das deutsche Sprachsystem z.B. mit seinen im Bereich der Berufs- und sonstigen Personenbezeichnungen ausschließlich maskulinen "Archilexemen" (siehe Anmerkung unten) enthält, wie Trömel-Plötz anführt, aufgrund seiner semantischen Struktur für Männer mehr Chancen des Gemeintseins und damit des Identifiziertwerdens als für Frauen. "Rein semantisch", das bestätigt auch Kalverkämper, enhalten Sätze wie

Der / Ein Berliner ist schlagfertig.
(Die) Berliner sind schlagfertig.

wegen ihrer zwei Lesarten ("alle, die in Berlin wohnen", "alle Männer, die in Berlin wohnen") für Männer zwei Chancen des Gemeintseins und für Frauen eine. Gewichtet man nun noch das Ausschließlich-Gemeintsein als doppelte und das Mitgemeintsein als einfache Chance, so haben Männer dreimal so viel Chancen wie Frauen.

Man kann also unser deutsches Sprachsystem in diesem Bereich mit einer Lotterie vergleichen, in dem Männer mit jedem Los gewinnen (mit beiden Lesarten gemeint sind), Frauen aber nur mit jedem zweiten. Noch treffender ist vermutlich der gewichtende Vergleich mit einer Lotterie, bei der Männer mit der einen Hälfte der Lose doppelt gewinnen (nämlich auf Kosten der Frauen) und mit der anderen Hälfte einfach, Frauen hingegen bei der einen Hälfte der Lose leer ausgehen ud bei der anderen Hälfte nur eine einfache Gewinnchance haben.

Sowei die "rein linguistische" Seite dieses ungerechten Spiels. Es wird nun oft argumentiert, daß der Situations- oder sprachliche Kontext diese historisch gewachsene und objektiv gegebene, aber erst seit kurzem öffentlich diskutierte und wissenschaftlich beachtete Chancenungleichheit der Frau klar ausgleiche, kurz: daß wir Frauen doch selbstverständlich immer mitgemeint seien. Dazu ist gleich mehreres zu sagen:

  1. Wie Stanley (1977) am Beispiel des englischen generisch gebrauchten he nachgewiesen hat, ist es im Gegenteil oft so, daß der Kontext, ähnlich wie der Kontext der Zehn Gebote, den Frauen klare Information liefert, daß sie keineswegs gemeint sind, also eine Niete in der Lotterie gezogen haben, eine Verletzung der Identität hinnehmen müssen. Für das Deutsche habe ich das nicht näher untersucht, aber die folgenden, während einer einstündigen Lektüre gefundenen Belege stimmen mich nicht optimistischer als Stanley:

    1. Dennoch können wir, wenn wir beispielsweise einen Menschen in die obere Mittelklasse einordnen (ohne etwas anderes von ihm zu wissen und vielleicht, ohne ihn jemals gesehen zu haben), mit ziemlicher Sicherheit etwas über die Aufteilung seines Haushaltsgeldes aussagen, die Anzahl seiner Kinder erraten, die Lage seiner Wohnung und die Art und Weise, wie er seine Ferien verbringt. Das ist aber noch nicht alles. Wir können auch in vielen Punkten auf seine politische Einstellung schließen, wir vermuten seine Religionszugehörigkeit und die Art der Bücher, die er liest. Wir können sogar voraussagen, ob er MIT SEINER FRAU bei Lampenlicht oder im Dunkeln Verkehr haben wird... (Berger und Berger 1976:92)
    2. Der Leser stelle sich einmal die eigene Person als Erneuerer der Grammatik oder des Wortschatzes vor. Vielleicht kann er in seiner nächsten Umgebung, seiner Mikrowelt, manchmal bescheidene Erfolge erzielen. Tatsächlich war ihm der wohl schon in seiner Kindheit beschieden. Die Familie hat vielleicht etwas von seinem kindlichen Kauderwelsch in die interne Familiensprache übernommen. Als Erwachsener kann man ähnliche Miniatursiege errringen, wenn man sich mit seiner Frau ... auf eine bestimmte Formulierung einigt. (Berger und Berger 1976:52)
    3. Und die Art des "Verstandes" oder des "Denkens", die dem Einzelnen zur Gewohnheit gemacht wird, ist dementsprechend auch im Verhältnis zu Menschen seiner eigenen Gesellschaft so ähnlich und so verschieden wie die gesellschaftliche Lage, wie die Stellung im Menschengeflecht, in der er auf- und in die er hineinwächst, ähnlich und verschieden von anderen, wie seine und seiner Eltern und seiner wichtigsten Modelleure Funktion. Die Langsicht des Buchdruckers oder des Maschinenschlossers ist eine andere als die des Buchhalter, die des Ingenieurs eine andere als die des Verkaufsdirektors, die des Finanzministers verschieden von der des Chefs der Heeresleitung. (Elias 1969:380)
    4. Interessanterweise scheint sich eine stillschweigende Übereinkunft in der populären Auffassung von Lebensgeschichten entwickelt zu haben, in denen ein fragwürdiges Individuum seinen Anspruch auf Normalität beweist, indem es seinen Besitz von Frau und Kindern anführt, und sonderbarerweise auch, indem es glaubhaft macht, daß es Weihnachten und Thanksgiving mit ihnen verbringt (Goffmann 1967 (1963): 16).
    5. Institutionen ... nehmen sich nicht nur das Recht, einen Frevler zu züchtigen, sondern auch, ihn moralisch zu maßregeln. Selbstverständlich gibt es von Institution zu Institution Gradunterschiede der moralischen Erhabenheit. Diese Unterschiede kommen gewöhnlich im Strafmaß, das dem Frevler auferlegt wird, zum Ausdruck. Der Staat als Institution kann ihn unter Umständen vernichten. Die Mitbewohner seiner Wohnsiedlung dagegen schneiden vielleicht nur seine Frau bei geselligen Veranstaltungen (Berger und Berger 1976:52). (Hervorhebungen von mir.)

    Solche Texte lesen sich für uns Frauen wie Krimis, spannend bis zur "Auflösung" des Falls. Doch, wir sind trotz der ständigen Maskulina und der fehlenden Feminina mitgemeint, so dürfen / müssen wir die ganze Zeit wähnen, denn auch wir haben ja Haushaltsgeld, Wohnung, Ferien, politische Einstellung, Religionszugehörigkeit, Umgebung, Mikrowelt, Kindheit, Verstand, Denken, Stellung im Menschengeflecht, Lebensgeschichten etc. etc. Aber all diese Identifikationsmöglichkeiten waren nur raffinierte Fallen, um die Schlußpointe "Frauen sind out" um so dramatischer auf uns wirken zu lassen.

    Dieser Befund ist für Frauen in mehrfacher Hinsicht empörend, entmutigend oder belustigend - je nach Temperament, Ichstärke und Stimmungslage.

    1. Wenn selbst eindeutig geschlechtsneutrale Ausdrücke wie du (Zehn Gebote), Mensch (Text 1 und 3) und Individuum (Text 4) ohne weiteres auf Männer allein referieren können, kann frau mit ziemlicher Sicherheit schließen, daß Ausdrücke wie der Leser, der Erneuerer, der Erwachsene (Text 2), der Einzelne (Text 3) und der Frevler (Text 5), die schon von ihrer Semantik her die Lesart "Männer allein" deshalb zulassen, erst recht auf Männer allein referieren werden (und in den Texten tun sie das ja auch). Die Semantik der letztgenannten Ausdrücke läßt die Lesart "Männer allein" deshalb zu, weil es die femininen Pendants die Leserin / Erneuerin / Erwachsene / Einzelne / Frevlerin gibt.

    2. Belustigend und vielleicht sogar schmeichelhaft könnte frau es finden, daß auch nicht an sie gedacht wird, wenn von "fragwürdigen Individuen" (Text 4) und von "Frevlern" (Text 5) die Rede ist.

      Da aber auch frau hin und wieder frevelt und sich fragwürdig verhält und dann auch die Folgen zu tragen hat, da ihr DIES Ausgeschlossensein in der Praxis also keineswegs nützt, wird sie auch derartige Fälle als Symptome des generellen "geistigen Gynocids" deuten müssen.

    3. Bei den Produzenten der obigen Texte handelt es sich durchweg um Autoren mit eindeutig emanzipatorischen Absichten und Überzeugungen, die ganz entschieden Stellung gegen Diskrimierung von Schwarzen, Behinderten und anderen sozial benachteiligten Gruppen beziehen. Aber den besagten Gynocid begehen sie alle.

  2. Weiter ist zu dem Argument, Frauen seien doch selbstverständlich immer mitgemeint, zu sagen: Ein Akt des Meinens ist, sofern er auf Personen zielt, ganz offenbar dann mißlungen, wenn diese Personen sich trotz aller guten Absichten der / des Meinenden nicht gemeint fühlen und dafür handfeste Gründe (Ambiguität, Kontext, Erfahrungswerte) angeben können. Sollen solche Meinensakte in Zukunft besser gelingen, müssen andere (also nicht ambige) Formulierungen gewählt werden etwa in der Art wie Trömel-Plötz sie für das Deutsche vorschlägt (...)


Anmerkung:

Die Archilexeme zerfallen, grob geordnet, in zwei Gruppen: a) solche mit femininem Pendant auf -in: KUNDE / Kundin, UNTERNEHMER / Unternehmerin, etc. b) solche, die aus Adjektiven und Partizipien abgeleitet sind und bei denen die Unterscheidung zwischen Maskulinum und Femininum im Plural morphologisch neutralisiert ist: DER / die Gefangene, Betreffende, Kranke, Jugendliche, etc. Die mask. Archilexeme sind neben den Pronomen nur ein Teilaspekt des Gesamtproblems "Wie wird im Deutschen auf Frauen referiert?". Ein anderer Teilaspekt sind die mask. Personenbezeichnungn ohne feminines Pendant: Mensch, Gast, Passagier, Lehrling, Zwilling, Flüchtling, Säugling, etc. von denen es heißt, sie referierten auf Personen beiderlei Geschlechts. Für diese Gruppen und Untergruppen sowie weitere Gruppen müssen im Rahmen einer feministischen Linguistik unterschiedliche Paraphrasierungsvorschläge entwickelt werden, desgleichen für je verschiedene Mitglieder einzelner Gruppen, je nach ihrer Semantik, Verwendung und Verwendungshäufigkeit.


Michael Rademacher, 28.12.1995
Archived page - Impressum/Datenschutz