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Mike Hentz

Die philosophische Datenbank von Minus Delta T

Himalaja - 3000 Meter Seehöhe - ein Safe, tief in den Felsen hineingebaut - 200 Schlüssel für den Sate - ein BASIC-programmierbarer Computer - nicht weit davon eine Schutzhütte für die dort arbeitenden Leute - das ist die philosophische Datenbank von Minus Delta T.

Genauer gesagt: das ist der zweite Teil von etwas, was im Februar 1983 im Stuttgarter Künstlerhaus begonnen hat- die Schaffung einer Datenbank. In der nicht so profane Daten wie einfache Bevölkerungsdaten, Umsatzstatistiken und dergleichen gespeichert werden, sondern eine Datenbank, die die Philosophie unserer Zeit verwahrt - und selbst eine Art Philosophie darstellt.

Warum nun haben die Leute von Minus Delta T dieses doch etwas seltsame Projekt begonnen, wozu der unterirdische Safe im Stuttgarter Künstlerhaus, der das Original der Aktie des Projekts enthält - und eine Flasche Wein?

Begonnen hat das alles in den fünfziger Jahren, während des Wirtschaftswunders, als jedermann nichts anderes im Sinn hatte, als SEINEM Anteil am allgemeinen Aufschwung nachzujagen. Unaufhörlich liefen sie hinter dem wirtschaftlichen Erfolg her - und die Werte, der Schlüssel zu jeder Kultur, blieben zurück.

Nicht, daß diese Periode keine eigenen Werte entwickelt hätte, eine individualistische Lebensanschauung wurde als eines der höchsten Ziele gesehen: aber jeder Wert, der sich in dieser Zeit neu entwickelte, wurde in den darauffolgenden Jahren Schritt um Schritt internationalisiert und - möglicherweise unbewußt - zu einer individualistischen Lebensanschauung ohne Basis in der kulturellen Tradition und zu einem noch heute gültigen moralischen Wert.

Die europäischen Moralkategorien sind an einem Punkt angelangt, wo sie viel - wenn nicht alles - von ihrem gesamtgesellschaftlichen Ursprung - von ihrem sozialen Kontext verloren haben. Wir fühlen und wissen, daß hier ein ausgeprägter Bedarf besteht für eine Neudefinition, ein Bedarf an Reflexion und an der Entwicklung einer neuen universalen Theorie. Man mag nun einwenden, universale Theorien habe es im Laufe der Geschichte schon genug gegeben: die Bibel stellt eine dar, der Koran eine andere, der Buddhismus eine dritte, Sozialismus, Kapitalismus, Anarchismus waren universelle Theorien - und als neuestes Beispiel Gaddafis "Grünes Buch". All diese universalen Theorien sind in einem Europa, das sich selbst als experimentelle Spielwiese einer modernen Kultur betrachtet, bereits überholt. Was Moral in Europa bedeutet, ist heute durch negative Definition bestimmt, durch eine konstante Verneinung. Diese unbewußte Negation unseres Seins muß endlich einer bewußten Bejahung Platz machen - und genau das wollen wir mit der Errichtung der philosophischen Datenbank erreichen, dazu wollen wir unseren zugegebenermaßen kümmerlichen Beitrag leisten.

Aber all dies erklärt noch nicht die Bezeichnung Datenbank.

Der Ausdruck "Bank" wurde in bewußter Anlehnung an die heutige wirtschaftlichkommerziell orientierte Gesellschaft gewählt, um die heiligen Symbole dieser Gesellschaft, wie "Bank ... .. Geld ... .. Aktie", "Daten" usw. für individuelle Absichten zu gebrauchen (oder mißbrauchen), für jene individuellen Werte, die im Schatten der Frage nach Inhalten und Lösungen stehen.

Die philosophische Datenbank soll offen sein für jeden, der an einem sozialen Codex oder einer individuellen europäischen Kultur (die nicht absolut die Kultur des Individuums ist) arbeitet. Er soll mit uns Kontakt aufnehmen, wir werden ihm einen Schlüssel reservieren und ein Paßwort für den Computer.

Dieser Computer ist allerdings mit keinem Terminal in Europa verbunden ...

Wir glauben, daß es notwendig ist, den Computer von Europa abzukapseln, um zu verhindern, daß die neue universelle Theorie von einer einzelnen Person geschrieben wird; nicht aus Mißtrauen den Absichten gegenüber, sondern weil wir glauben, daß ein einzelner zu viele seiner individuellen Werte einfließen lassen würde.

Kultur hängt nicht von ihrem äußeren Rahmen ab, sondern vom Inhalt ihres Codex. Der Rahmen mag sehr interessant sein, ist aber zweifellos nebensächlich, genauso nebensächlich wie die unterschiedlichen Gebiete und Arbeitsbereiche, aus denen die Mitglieder von Minus Delta T kommen. Unsere heterogene Herkunft aus Musik, Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Ethnologie sowie aus der Zukunftsforschung haben zu dem Ergebnis geführt, daß wir uns mit sehr globalen Angelegenheiten beschäftigen. Die Nicht-Spezialisierung gibt der Gruppe einen gewissen Überblick und in diesem Sinne eine große Verantwortung für ihre Aktivitäten, für Aktivitäten, die keine Kompromisse brauchen.

Was die Philosophie betrifft, so ist der vorliegende Text keinesfalls ein Kompromiß. Dieser Text ist die Philosophie von Minus Delta T, eine Philosophie, deren Philosophie es ist, aus vielen Philosophien zu bestehen ...

Minus Delta T ist eine Gruppe von Leuten, die in keiner Weise uniform sind, die nicht die gleichen Ideen haben, aber trotzdem miteinander arbeiten. Die Gruppe besteht seit 1979, und seit damals sind viele Leute durchgegangen, ohne hier ihre Heimat zu finden (das waren größtenteils die "Spezialisten").

Eines der Hauptanliegen der Gruppe ist die Nicht-Spezialisierung, wir wollen für jedermann und alles offen sein. Anfangs haben wir viel auf musikalischem Gebiet gearbeitet, Performances gemacht, Ausstellungen, aber auch viele private Arbeiten (halbe-halbe schien uns ein ausgewogenes Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Arbeit zu sein). Seit 1980 arbeiten wir an diesem Projekt, das anfangs den Titel "BangkokProjekt'' hatte (siehe hierzu auch den Katalog der ARS ELECTRONICA 1982, Seite 154), Dieses Projekt umfaßte den Transport eines fünfeinhalb Tonnen schweren Steines, eines Dolmensteines, eines Europäischen Denkmales nach Asien, sozusagen als Kultur-Katalysator. Auf dem Lkw hatten wir ein komplettes Multi-Media-Equipment, einschließlich Ton-, Film- und Fotoausrüstung, von der Computertechnologie bis zur Waschmaschine.

Der größere Teil der Gruppe befindet sich derzeit in Asien, um den Weitertransporl des Monolithen nach China vorzubereiten (wobei der Monolith als solcher natürlich völlig unwichtig ist), sowie auf einer Reise durch Indien im Rahmen des "Bangkok-Projektes".

 

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