C.I.A.
(Chaos in Amsterdam)
Eines Tages kam es über die Netze: In Amsterdam ist eine galaktische Hacker-Party angesagt! Natürlich mußte da auch Chaos-Lübeck auftauchen. So kam es, daß schon am ersten August zwei Autos beladen
mit acht neugierigen Chaoten ankamen. Auch das Paradiso war bald gefunden, nachdem wir dreimal daran vorbeigelaufen waren, weil der Schriftzug erst am nächsten Tag installiert wurde und sich die alte Kirche in ihrem dezenten schwarz nicht sonderlich von den umliegenden Häusern unterscheidet. Da unsere Mithilfe nicht erwünscht war, nutzen wir den Nachmittag und den Abend zu einem langen Stadthummel in dieser wunderschönen Stadt mit ihren Grachten, Museen, Parks, Pommes Frites-Buden und Coffee-Shops, bis wir erschöpft in unsere Hotelbetten sanken.
Am nächsten Tag standen wir schon früh auf der Matte. drückten unseren Eintritt ab und wurden von dem berühmten Fernsehmoderator Max Headroom begrüßt und in das Chatsystem eingewiesen, das auf einer Sun basierte und an das etwa zwanzig STs als Terminals angeschlossen waren. Außerdem wurden ab und zu ausländische Teilnehmer eingeschleift (wie zum Bleistift die Hamburger Chaoten), so daß ein mehr oder weniger intelligentes Gespräch (über Sex, Viren, Amiga/Atari, FBI, etc.) entstehen konnte. Da die Deutschen mal wieder in der Überzahl waren, konnten sich einige wieder nicht beherrschen und wechselten zu deutsch über, bis sie totgeflamet waren. In Amsterdam ist nun wirklich Englisch angesagt. Selbst in der Stadt findet man kaum einen Einheimischen, der einem den Weg weisen kann ("No comprendo.").
Nach dieser Begrüßung mußten die internationalen Fernsehteams erst einmal wie die Geier über uns hilflose Hacker herfallen. So kam es, daß Jan in die Abendnachrichten kam: Mit einem Laptop auf den Knien, während er gerade Tetris spielte.
Bei John Drapers (alias Captain Crunchs) Vorführung des russischen Datennetzes kamen viele leider zu kurz: Die Veranstalter schafften es nicht, das Bild seiner Maus auf die Großbildleinwand zu bringen. Aber soweit ich davon etwas mitbekommen habe, realisiert er die Datenverbindung über "The Well", eine große Mailbox in den USA. Außerdem führte er mit seinen Kollegen in allen Kontinenten Gespräche und tauschte mit dem Videophone, das Kamerabilder digitalisiert und mit einem 9600 bps-Modem über normale Telefonleitungen überträgt, Bilder aus (Publikum in Amsterdam gegen Bild vom Arbeitszimmer in San Francisco).
Sehr interessant, wenn auch wenig beachtet, war der folgende Vortrag von Lee Felsenstein, der von Computern als Werkzeugen der Demokratie handelte. Er berichtete von dem von ihm unterstüzten "community memory"-Projekt: Die Projektleiter installierten ein großes Mailboxsystem und stellten Terminals in öffentlichen Bibliotheken auf, so daß nun wirklich jeder diesen Service nutzen kann. Man kann über seine Probleme diskutieren oder eine Wohnung suchen, usw. Inzwischen wurden geringe Gebühren für Nachrichten erhoben (Kassierung mit "coin-boxes"), damit das Projekt weiterentwickelt werden kann.
Außerdem ging Felsenstein auf den Stellenwert der DFÜ in der heutigen Medienlandschaft ein, in der es zu viele Medien ohne Rückkanal (Zeitung. Fernsehen, Radio, usw.) und zu wenige wirkliche Kommunikationsmedien (wie z.B das Telefon) gibt. Daher sei die DFÜ sehr demokratisch und müsse gefördert werden.
Den großen Vorträgen in der "main-hall" folgten Workshops im kleineren Rahmen. Bernd Fix diskutierte mit einigen amerikanischen Experten über Computerviren und Steffen präsentierte sein BtxNet, das die Vorteile des deutschen Bildschirmtextes (günstigstes Abrufen von Seiten zum Ortstarif im ganzen Bundesgebiet) ausnutzt und es zudem ermöglicht, verdeckt und unkontrolliert (sogar verschlüsselt) mit vielen verschiedenen Telekommunikationsdiensten von einem Rechner aus kostengünstig zu arbeiten. Bei diesem Workshop zeigte sich wieder die große deutsche Präsenz: Es waren nur drei Ausländer erschienen, so daß wir alles auf deutsch bereden konnten. Abgeschlossen wurde der Tag mit dein Film "Brazil" von Terry Gilliam, der sehr geteilte Kritik hervorrief. Während einige den Film nur berauscht vertragen konnten, waren andere fasziniert oder angeödet. Aber als Alternative war ja immer noch der Hackroom geöffnet, der für Kameras Sperrgebiet war und als Kommunikationszentrum für Phreaks und Hacker diente. Sehr erstaunlich, wen man hier alles traf. Auch Packet-Radio wurde sehr stark praktiziert, die Antennen auf dem Dach der ehemaligen Kirche zeugten davon.
Gegen Mitternacht (oder war es noch früher) wurden wir (wie auch an den folgenden Tagen) an die frische Luft gesetzt. Gerade wenn die Chatrunde gemütlich wurde, wurde der Server abgedreht. Und so etwas nennt sich Hackertreffen! Die "Game-Night" am Donnerstag hätte man auch lieber "Game-Evening" nennen sollen. Aber davon später.
Der nächste Tag begann sehr interessant: Captain Crunch packte mit interessanten Infos über das sowjetische Telefonsystem aus. Welche Modems kann man dort betreiben und wie wird dort gewählt? Wußtet Ihr, daß in der Sowjetunion mehrere verschiedene Tone-Dial-Systeme existieren? Oder daß jedes Hotel seine eigene Vorwahl hat und die Zimmertelefone selbständige Rufnummern haben? Da John Draper, nachdem er einige Jahre im Knast zugebracht hatte, weil er wegen Telefonvergehen in den USA zu bekannt geworden war (den Häftllingen hat er übrigens Telefonphreaking-Nachhilfe geben müssen) nun an einem amerikanisch-russischen Netzwerk arbeitet, war er sehr kompetent in diesem Metier. Aber alle Infos hier aufzuschreiben, wäre zuviel verlangt.
Es folgte eine Debatte zwischen Wau und Pengo über Hackerethik.Auch diese Diskussion wurde übrigens auf deutsch geführt und auf einer Großbildleinwand mehr oder weniger korrekt per Untertitel für das internationale Publikum übersetzt.
Am Nachmittag lagen noch eine Debatte über Naziware und einige Workshops an u.a. Diskussion über Geheimdienste und wie man sich vor ihnen schützt und die Vorstellung der holländischen Ausgabe des in Hackerkreisen bekannten Buchs "Bolo Bolo".
Die folgende "Game-Night" (die ich wie oben erwähnt lieber "Game-Evening" nennen würde), bestand hauptsächlich aus einer lustigen Midi-Maze-Fete in der "Upper-Galery" des Paradiso. Es war doch erstaunlich, wie viele Leute dieses Kult-Spiel noch nicht kannten. Wir als erfahrene Spieler (hier in Lübeck steigt ja fast jeden Monat eine Fete) nahmen die Sache erst einmal in die Hand. Der letzte Tag stand ganz im Zeichen der freien Kommunikation über Computer: Über ein Netzwerk (DSN) sprachen wir mit den Teilnehmern einer Aktion gegen das Regime in Südafrika, die Mailboxen als weitgehend unzensierte und kostengünstige Möglichkeit zur Planung ihrer Aktionen entdeckt haben. Der meiste Schriftverkehr läuft verschlüsselt ab und manchmal greift der Staat einige Journalisten auf, die mit ihrem Computer bei diesem Projekt aktiv mitarbeiten und die Polizei zerstört Modem und Computer. Da diese Geräte aber bei der staatlichen Versicherung versichert sind, muß der Staat selbst wieder die Neuanschaffung bezahlen. Unsere Gesprächspartner führen auch Schwarze an die Computertechnik heran, um den Bildungsunterschied etwas kleiner werden zu lassen. An diesem Beispiel mußte jeder sehen, wie hilfreich diese zuerst als Spielerei von technikgeilen Kids abqualifizierte DFÜ für solche Gruppen sein kann.
Im Hack-room wurde inzwischen die Sun geöffnet, die, wie schon erwähnt, als Chat-Server diente. CHRS ließ Fractalbildchen auf Captain Crunchs Mac (natürlich mit Farbbildschirm) berechnen bis die CPU qualmte. Dann hieß es schon langsam Abschied nehmen von allen Hackern aus dem Rest der Galaxie.
Um halb sechs wurden die Pforten geschlossen, weil Vorbereitungen für die große Party mit Musik am Abend getroffen werden mußten. Daran nahmen wir aber aus Zeitgründen nicht mehr teil, so daß wir nach einem halbstündigen Kampf mit dem Amsterdamer Verkehr wieder Kurs auf Norddeutschland nahmen. Wie immer leuchtete das LCD-Display blau im Wagen. Nur das Autotelefon fehlt noch, sonst hätten wir euch diesen Bericht vielleicht schon auf der Fahrt zuspielen können. Also spendet auf unser Spendenkonto, es lohnt sich!
Henne
|