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DAS INNERE DER WIR-MASCHINE

1. DIE ERFINDER

"das war vor ein paar jahren und damals nannte man das science fiction. heute ist es wahrscheinlich zukunft und damit zeit für eine begriffsbestimmung."

Justus Raider, "Spaß für Morgen"

In den späten Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts setzte mit der Erfindung des Computers für Jedermann eine wilde Entwicklung ein. Die gute alte EDV war auf einmal High Tech und avancierte zur Leitströmung westlicher Kultur. Der Mythos Computer, der sich in den zurückliegenden Jahrzehnten bereits mächtig aufgeladen hatte, erwies sich als publikumswirksam im weitesten Sinne des Wortes.

Sogenannte Großrechenanlagen waren auf Daumennagelformat geschrumpft. Teenager saßen plötzlich an der Spitze millionenschwerer Unternehmen. Die Leute fingen an, kleine Fernseher auf ihre Schreibtische zu stellen und auf Plastiktastaturen krauses Zeug wie LOAD "*",8 oder $FFFF einzutippen. Während die meisten Erwachsenen sich ziemlich anstellten, hatten Jugendliche zwei entscheidende Vorteile der in Griffweite gerückten Technologie gegenüber: am meisten Zeit und am wenigsten Respekt. Die Kids brachten ihren Lehrern bei, wie man mit den Maschinen umgeht, und sie schockierten ihre Eltern damit - eines der fundamentalen Anwendungsgebiete von allem, was neu ist.

Wenn man die beiden masseführenden Drahtenden eines Stromkabels vorn und hinten in ein Würstchen steckt, fungiert das Würstchen als Widerstand und wird heiß, mit anderen Worten: das Würstchen wird, zwar nicht unbedingt delikat, dafür aber extrem schnell gegrillt. Dies entsprach dem Forschergeist, der eine Anzahl von Leuten veranlaßte, mit dem Computer Dinge auszuprobieren, an die keiner der Entwicklungsingenieure jemals auch nur im Entferntesten gedacht hatte. Der Experimentierfreude am Computer waren vorderhand keine Sicherheitsgrenzen gesetzt, da man es ja mit virtuellen Bit-Würstchen zu tun hatte und die Hardwarebastler Elektronik als etwas wie eine Niedlichkeitsform normaler Netzspannung ansahen.

Die rasant abnehmende Zukünftigkeit der Produkte hergebrachter technischer Utopien, die sich nun immer öfter in reale, marktfähige Prototypen verwandelten, vor allem aber das Auftauchen der ersten Hacker und die Entstehung einer Computersubkultur inspirierten Anfang der Achtziger Jahre nordamerikanische Science Fiction-Autoren zu neuen Entwürfen einer Welt von Morgen. Um nach all dem Durcheinander, das die Zweite Industrielle Revolution sowieso schon verursacht hatte, auch noch den gerade zeitgemäßen No Future-Gestus auf den Kopf zu stellen ("Kowfuture"), nannten sie sich Cyberpunks.

Als ihr maßgeblicher VorWriter gilt der Kanadier William Gibson, der sich mit Short Stories für das Edelphantastenmagazin "Omni" einen Namen machte. 1984 (sic!) veröffentlichte er seinen ersten Roman "Newromancer", der alle großen Auszeichnungen der US-Science Fiction- Gemeinde abräumte und den begrifflichen Grundstein für ein bemerkenswertes Kontinuum legte: Cyberspace.

Die Erzählungen Gibsons und der weiteren Cyberpunks handeln nicht mehr von imperialistischen Walzenraumschiffen oder von Gartenzwerg-Phantasy. Sie präsentieren die Vision einer illusionslos unsere Gegenwart verstärkenden, dreckigen Zukunft, beherrscht von gewaltigen Firmen, unkontrollierbar komplexen Computernetzen und einer ruppigen, großstädtischen Atmosphäre. Ihre zentralen Figuren sind Hacker und Digitaldesperados, die solo oder im Auftrag obskurer Mächte durch den Cyberspace abenteuern, eine elektronische Mega-Metropolis, die kaum Ähnlichkeiten mit dem idyllischen Bild eines Globalen Dorfs hat.

Protagonisten wie der "Neuromancer" Case oder der von Harrison Ford bewundernswert gegebene Replikanten-Jäger in dem Cyberpunk-Kultfilm "Bladerunner" übertragen die mythische Mentalität von Phil Marlowe ins 21. Jahrhundert. Alle sind sie leicht ramponiert aber tough, professionell, drogenerfahren und sentimental. Die Frauen in den Geschichten sind technoid, versiert, kämpferisch; nichts an ihnen erinnert mehr an die aus den Spielberg-Filmen bekannte heroische amerikanische Hausfrau, die mordlustige Gremlins mit Mixer und Mikrowelle zermarmelt.

Mehr und mehr Leute schrieben Geschichten, die sich nach Cyberpunk anfühlten - Norman Spinrad, Tom Maddox, John Brunner, Rudi Rucker, W.T. Quick, Mike Farren, Walter J. Williams, um nur einige zu nennen. Nach einer Weile bekam das Ganze erstmals News-Charakter und wurde Pop. Die Medien reckten ihre Fühlfedern in die neue Richtung und zahlreiche Aufsätze und Artikel wurden publiziert (fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten). Die "Mississippi Literary Review" etwa widmete dem Thema Cyberpunk eine ganze Ausgabe.

Allen Cyberpunk-Geschichten gemeinsam ist das "Netz", die "Matrix", der Cyberspace; etwas, das viele Namen hat und das den technisch erzeugten Symbolraum einer erdumspannenden elektronischen Schattenwelt in einen Begriff zu fassen versucht - ">Die Matrix hat ihre Wurzeln in primitiven Videospielen<, sagte die Stimme, >in frühen Grafikprogrammen und Militärexperimenten mit Schädelsteckern< ... Cyberspace. Eine gemeinschaftliche Halluzination, die täglich von Milliarden legitimer Benutzer erfahren wird. Eine grafische Darstellung der Daten aus den Speichern sämtlicher Computer im menschlichen System. Eine undenkbare Vielfältigkeit." (William Gibson, "Neuromancer").

Der Sicherheitsnadel der Punkrocker entsprach die Schädelstecker- Vision der Cyberpunks. Das Lebensgefühl, aus dem sich Cyberpunk literarisierte, bezog seinen Schwung aus einer vor böser Ironie funkelnden, geradezu hemmungslosen Technophilie, die brave Bürger in Angst und Schrecken versetzte. Etwas vereinfacht gesagt, bestand der Spaß an der Sache darin, die ideenmächtigen Entwicklungen der Hochtechnologie möglichst affirmativ und radikal nach vorne zu denken und zugleich nervtötenden Naturharmonikern auf den Schlauch zu steigen, deren Zukunftsvorstellungen sich auf die Umwandlung der Erde in einen planetares Radieschenbeet beschränken.

Wie sich heute - 1991 - abzeichnet, hat die Phantasie der frühen Cyber- Schreiber in manchen Dingen nicht einmal besonders weit gereicht. Der technologische Diskurs mit seinen euphorisch überhöhten Begrifflichkeiten produziert seit mehr einem Jahrzehnt Anachronismus um Anachronismus (Cyberspace ist der potentiell nächste). Mitte der Achtziger Jahre noch effektvoll beiläufig erwähnte Megabytes an Speicherkapazität stecken inzwischen in jedem mittelmäßigen Personal Computer, und der "Neuromancer" liest sich heute an manchen Stellen richtig drollig und umständlich, etwa als versuche jemand, einem Watussi zu erklären was ein Soundsampler ist. Zum Zeitpunkt der Niederschrift waren manche Sachverhalte erst einem verhältnismäßig exotischen Zirkel von Fachleuten und Computerfreaks bekannt.

2. DIE BESUCHER

"Wir brauchen Informationen, so viel wir kriegen können, wir sollten informieren so viel wir können, und wir sollten phantasieren, solange wir noch können."

Klaus Maeck, Rudolf Stoert

Als ich etwa zu der Zeit in eine europäische Untermenge dieses Freakzirkels, den Hamburger Chaos Computer Club, geriet, hatte hierorts noch niemand etwas von Cyberdingens gehört. Heutzutage wissen wir zwar Bescheid, aber eher aus Höflichkeit als aus Begeisterung. Der Grund hierfür liegt in einigen Entwicklungslinien, in denen sich - abgesehen von der Tatsache, daß die europäische aus der amerikanischen hervorgegangen ist - die jeweiligen Hackerkulturen signifikant voneinander unterscheiden.

Amis und Euros meinen, mit der gemeinsamen Zugehörigkeit zum westlichen Kulturkreis über eine wasserdichte Verständigungsgrundlage zu verfügen; dies vor allem, was Fragen der Popkultur betrifft. Popkultur gilt, jedenfalls für die Nachkriegsgenerationen, als die übernationale Gemeinsamkeit schlechthin. Vergleicht man nun beispielsweise in Punkto Punk die Auffassungen der Alten mit denen der Neuen Welt, zeigen sich bereits erhebliche Differenzen. Während in Europa die Ästhetisierung des Häßlichen zur maßgeblichen Stilfigur wurde, ein prima Affront gegen Sonnenuntergangssehnsucht und politische Jammerkultur der Siebziger Jahre, war Punk für die Amis einfach eine weitere der unendlich vielen Variationsmöglichkeiten von Rock'n'Roll, diesmal eben etwas speediger und rauher als sonst, yeah, und etwas für Leute, die gern Halbfingerhandschuhe und querrissige Jeans trugen.

Komischerweise erweckt die in den Hackerszenen als kontextsensitiv gehandelte SF-Literatur den Eindruck, als habe jemand die Kisten vertauscht. Während das Vorurteil die düsteren US-Zukunftsbilder eher einem europäischen Geist zuordnen würde, scheint sich das aberwitzige, von deutschen Hackern favorisierte Meisterwerk des Briten Douglas Adams, der inzwischen mehrere Bände umfassende Spacespaß "Per Anhalter durch die Galaxis", eher sommerlich heiteren kalifornischen Marihuanatütchen entwunden zu haben als jener verhängnisvollen Mischung aus Kopfschmerz und keinem Tee, die der Autor selbst anführt. Übrigens stammt auch der überzeugendste und wie es aussieht bisher einzige wahre Bewohner des Cyberspace, Max Headroom, aus englischen Heads, stammt er nicht? Hi there, televisionists. I'm urging you NOT to buy something. Strange, hm -

Ein subversives Betätigungsfeld, das den hiesigen Hackern gänzlich fehlte, war das Phone Phreaking. Das europäische Telefonnetz läßt aus technischen Gründen ein paar Zaubereien nicht zu, die in der präcomputerisierten Ära interessierte US-Kids vor der Langeweile bewahrt haben. Deutsche Hacker pflegen zwar standesgemäß ihre Abneigung gegen die Bundespost ("Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Post an Bord"), aber für gegebenenfalls spielerisch nutzbare Einzelheiten des Telefonsystems interessiert sich niemand so recht, außer es geht um Datenverbindungen.

Wie immer an dieser Stelle der Historie kommt nun die Geschichte von John Draper. Seinen Spitznamen Captn Crunch wählte er nach einer Schachtel Frühstücksflocken, in der sich als Gimmick ein Trillerpfeifchen befand. Das Pfeifchen kostete den ehemaligen amerikanischen Telefongiganten Bell Corporation ("Ma Bell") viel Geld und Nerven. Als Draper damit irgendwann Ende der Sechziger Jahre ins Telefon fiepte, schaltete der Gebührenzähler ab, aber die Verbindung blieb weiter bestehen. Wie sich herausstellte, hatte er zufällig die Frequenz von 2600 Hertz getroffen, die das Telefon sonst nur nach dem Auflegen in Form eines kurzen Impulses in die Leitung ("on/off trunk") schickte.

Das bedeutete für Angehörige der kapitalkargen Klasse Reisefreiheit auf den Telefonnetzen. Der Bauch von Ma Bell wurde so zur elektrischen Fruchtblase des Cyberspace. Zwanzig Jahre vor Realtime-Telekonferenzen und Online- Chats traf man sich telefonisch in YIPL's, Young International Party Lines, um zu soundsovielt über Phreak und Phrieden zu plaudern. Zusammen mit den Computersüchtigen der ersten Stunde - Programmierern in den Rechenzentren von Universitäten und Firmen - und Jungs, die immer schon gern Radios zerlegt und eine Neigung zum Underground hatten, waren die Phone Phreaks die unmittelbaren Phorpharen der Hacker.

Ein 1986 verbreitetes Konvolut mit dem Titel The Cyberspace Handbook, dessen Autoren aus dem Umfeld der aus YIPL-Flugblättern entstandenen Hackerzeitschriften "TAP" und "2600" stammten, bot handfeste Hilfen zum Einstieg ins Inside Computing. Neben Stimmungsberichten von Hausdurchsuchungen und Schnellsiedekursen für den Umgang mit Großrechnerbetriebssystemen fanden sich seitenlange Listen mit Mailboxnummern, Mainframe-NUA's (Network User Adresses) und testbehörchelten oder irgendwie verheißungsvollen Telefonnummern ("phun numbers"). Gut ein Viertel des Handbuchs war dem Handwerkzeug von Telephonphans, den mit unterschiedlichen Schlüsselfrequenzen ausgestatteten "colour boxes" und den bei der Zusammenschaltung mehrerer Gesprächsteilnehmer nützlichen "cheese boxes" gewidmet.

"Wer nicht in Echtzeit operierte", schreibt der heute in London lebende kanadische Publizist John Drake über die hacktuelle Situation Mitte der Achtziger Jahre, "las Magazine wie "Reality Hackers", "Mondo 2000", "WORM", "2600" oder "Science Fiction Eye", um sich auf dem Laufenden zu halten. Der neue Hacker vertritt eine potentiell radikale Philosophie; ihm winkt eine Vision vom Informationszeitalter; er ist ein vernünftiger, anarchistischer Politiker. Der neue Hacker ist ein Cyberpunk. >Die Ethik muß verbreitet werden<, so Michael Synergy, ein Mondo 2000-Schreiber, >damit der neue Hacker die hauchdünne Linie zwischen einem eleganten Hack und einer Secret Service-Fahndung genau erkennen kann<. Das Mondo 2000- Credo sagt noch mehr über den neuen Hacker: >Cyberpunks sind die Türhüter und Wächter der individuellen Freiheiten. Es sind etwa 20.000 Leute, und sie haben Zugang zu allem. Big Brother weiß das, und Big Brother möchte sie gern plattmachen.<"

Daß "Zugang zu allem" nur ein kleines bißchen übertrieben war, zeigte sich in den folgenden Jahren. Im Herbst 1987 wurde publik, daß Hacker aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs mehr als 120 Rechner und Rechnerverbünde ("cluster") in dem von der US-Raumfahrtbehörde betriebenen transkontinentalen Space Area Network SPAN unter ihre Kontrolle gebracht hatten, unter anderem die Hauptrechner im Goddard Flight Center ("*** welcome to the NASA headquarters ***") mit den aparten Netznamen Castor und Pollux.

Im Jahr darauf ließ der Informatikstudent Robert Morris jr. dem umfangreichsten Computernetz der Welt, mit Namen InterNet (in dem das fast zweitausend Rechenzentren umfassende SPAN nur eine der vielen Teilstrukturen darstellt), sozusagen die Luft aus einem Reifen. Er startete ein von ihm verfaßtes Wurmprogramm, das an sich harmlos war, sich allerdings wesentlich rasanter ausbreitete als vorgesehen. 48 Stunden später wurde der Nationale Sicherheitsrat einberufen. In mehr als fünftausend kreuz und quer über den Globus verstreuten Rechenzentren waren die Computer inzwischen teilweise oder ausschließlich damit beschäftigt, den Morris- Wurm in immer neuen Kopien zu verbreiten.

Fügt man einmal - nur in der Vorstellung - das InterNet, in dem bereits zehntausende von öffentlichen Einrichtungen, Universitäten, Forschungs- und Technologiezentren und militärische Systeme der unteren Sicherheitsstufen ("MilNet") miteinander verbandelt sind, mit den transkontinentalen Devisenpipelines von Banken und Börsen, den Reservierungssystemen von Eisenbahn und Fluggesellschaften und den Netzwerken großer Privatunternehmen und Konzerne zu einer ineinandergreifenden Superstruktur zusammen, die ihre Verbindungen ständig permutiert, so erhält man schon heute eine Ahnung von der Dimension des Netzes, die allerdings sonderbar fühllos ist.

3. RAUM OHNE ENTFERNUNGEN

"Der du einst reich an Leuten warst, bist im Land, das die Einsamkeit liebt. Der gern seine Füße bewegte, um zu laufen ist umwickelt, gebunden und eingesperrt."

Klagelied aus dem Grab des Nefer-ho-tep, ca. 1300 vor unserer Zeitrechnung

Was das für ein Gefühl ist, sich durch das Netz zu bewegen, ist eine Frage der persönlichen Veranlagung. Menschen, die Angst haben, die Wirklichkeit eventuell mit einem Monitor zu verwechseln, balancieren in diesem Fall lieber ohne Netz.

Die Urform elektrischer Nachrichtennetze ist das weltweite Telefonsystem. Dessen Verzweigungsdichte - man könnte auch sagen: virtuelle Raumstruktur - stellt die jedes Computer- Leitungsverbunds immer noch mühelos in den Schatten; jedenfalls so lange noch mehr Menschen als Maschinen online sind.

Bei der Überwindung von Entfernungen mit elektrischer Geschwindigkeit bleibt der Körper zurück. Auch trainierte Kampfjägerpiloten und Astronauten können Beschleunigung und Fliehkräfte nur bis zu einer bestimmten Grenze ertragen, ohne bewußtlos zu werden.

Der Trick beim Telefonieren besteht nun bekanntermaßen darin, daß nicht der Körper selbst, sondern eine seiner Repräsentanzen beschleunigt wird, im speziellen Fall die Sprache durch eine elektrische Substitution der Stimme. Dadurch tritt eine moderne Form von Raumverlust ein. Zwar bleibt der geographische Raum bestehen (was sonst), aber die Entfernungen darin verschwinden. Ein "Ich wollte, du wärst hier", das man einem telefonischen Gegenüber um die halbe Erdkugel herum ins Ohr flüstert, läßt das Schmerzliche an diesem sonst ungefühlten Raumverlust zutage treten.

Andererseits wird die alles körperlich Erträgliche übersteigende Geschwindigkeit, die durch das Telefon stattfindet, als Kommunikationsfahrtwind vernehmlich: das Rauschen. So tönt sogar das Schweigen - als Reibungsgeräusch der puren Kommunikationsbereitschaft.

Ich verwende den Begriff Kommunikation hier übrigens als reinen terminus technicus und halte ihn darüber hinaus für einen monströsen Euphemismus. "Kommunikation kommuniziert nicht. Mit nichts", sagt Jean Baudrillard und bringt damit jene horizontlose Hohlheit auf die Spitze, die heute auch noch die peinlichsten Formen von Ideenlosigkeit durch die blanke Möglichkeit ihrer Weiterleitung auf technischem Weg und eben die Bezeichnung Kommunikation zu veredeln versucht. "Das Großhirn im Zeitalter seiner technischen Reduzierbarkeit", frei nach Walter Benjamin.

Je weiter weg vom Anrufer eine Telefonverbindung durchzuschalten ist, desto dschungelhafter britzelt und knackt es aus dem Hörer; ein trockenes Tackern wie Eisenbahn auf ungeschweißter Schienenstrecke vermittelt einen deutlichen Eindruck von Vorwärtsbewegung; Relais schnappen mit zangenhaft beunruhigendem Geräusch um; und dann erst diese durch sekundenlanges Satelliten-Delay in ein Gespräch hineingezögerten Lücken, in denen sich Kommunikation und Geschwindigkeit gewissermaßen von den beiderseits in die Verbindung hineinredenden Menschen unabhängig machen und wie gespenstische Fettaugen ausbreiten.

Digitale Verbindungen, vorerst noch hauptsächlich Computern vorbehalten, sind darauf angelegt, das unvermeidliche Rauschen mit Hilfe bestimmter Codierungsverfahren zu durchtunneln. Die

Trägerfrequenzen ("carrier"), denen die Daten zum Transport aufgeladen werden, liegen im hörbaren Bereich knapp unter der Zahnwehgrenze. Die meisten Hacker lassen das dünne Geräusch, um den Verbindungsaufbau zu kontrollieren und, wie ich beobachtet habe, auch aus einem gewissen folkloristischen Bedürfnis, aus den Lautsprechern ihrer Modems pfeifen. Der Sound, bohrend fein und pfeilschnell, liegt diametral gegenüber dunklem Raketenstartgrollen oder Düsenfauchen, die in der vordigitalen Zeit Startsignale der Beschleunigung waren. Als ein letzter sinnlich wahrnehmbarer Hauch der nachfolgenden Augenblicksgeschwindigkeit repräsentiert das Carrier-Pfeifen eines jener typisch neuzeitlichen, filigranen Betriebsgeräusche, die nichts mehr mit dem raumgreifenden und Materialität verkündenden Schwingen und Wubbern mechanischer Maschinen zu tun haben.

Hat man sich auf's Datennetz geschaltet, finden alle weiteren Verbindungen lautlos statt. Der letzte Rest aus der Ära der Entfernungen sind winzige Schaltverzögerungen, wenn es via TelStar oder im Zickzack über Kontinente und Tiefseekabel geht und sich auch die Obergrenze der Geschwindigkeit andeutet, mit der der elektrische Strom läuft (Quizfrage: Wie schnell fließt Strom? - Bloß weil er Glühbirnen zum Leuchten bringt noch lange nicht mit Lichtgeschwindigkeit).

Die Herstellung einer Datenverbindung ist, um einem möglichen Eindruck von Verklärung entgegenzuwirken, ein prosaisches Ereignis. Um zu erläutern, was es mit der eingangs erwähnten persönlichen Veranlagung auf sich hat, muß man sich klarmachen, daß der Bildschirm, auf den man sieht, kein Bild zeigt, nur Text. Kennungen, Anweisungen, ab und zu Zeilenteppiche, die über den Schirm fließen ("download"), oder schlicht garnichts, etwa beim Austausch von Binärdateien; am Ende macht's BING. Denk dir ein's. Und genau das ist es.

Nach meiner Erfahrung gibt es nur eine Möglichkeit, ein Hackergreenhorn zu werden: Es muß funken. Dem Anwärter muß sich offenbaren, daß es sich bei Datenreisen, ob durch die Netzwerke oder in eine Mailbox um die Ecke, um eine im tieferen Sinn phantastische Angelegenheit handelt. Die Offenbarung oder profaner das Sich Öffnen ist das fundamentale Raumerlebnis. Ohne Phantasie bleibt das Fenster in die elektronische Welt ein Bildschirm ohne Bilder und nichts als ein paar trostlose Zeilen kriechen unter dem Glas lang.

Dieser Cyberspace wird seiner fiktionalen Herkunft gerecht, er hat literarische Qualität. Damit ist nicht das hohe Niveau der in elektronischen Systemen abrufbaren Texte gemeint ("ich mus mal was zur golfkriese sagen"), sondern der fortwährende Anspruch, Vorstellungsvermögen und Assoziationsfähigkeit auf eine Weise in Bewegung zu halten, die das statische Textgerüst eines Buchs übertrifft. Er ist ein begehbares Buch. Dynamische Experimentalliteratur. Davor einfach dumm rumsitzen und rauchen kann man natürlich auch. Ich meine, das ist es doch, was man persönliche Veranlagung nennt.

Der mikroelektronisch inspirierte Vorstellungsraum macht sich für den, der ein Empfinden dafür entwickelt hat, fortwährend lustig über jene Form von Kulturpessimismus, die mit dem Aufkommen der sogenannten elektronischen Medien den Untergang der Literatur nahen sieht, der gehaltvollen Kontemplation, und der auf ein paar aus jahrhundertealter Handwerkstradition geschöpfte Blätter druckerschwärzeduftigen Papiers und einen fundierten Ohrensessel reduzierten Gegenüberstellung mit den Großen Fragen der Welt. Ich bin Schriftsteller, wenn das Computern der Poesie schadet, kann ich mich erschießen.

Das Auseinanderdividieren amerikanischer und deutscher Hackereigenheiten betreibe ich, nebenbei, nicht aus Abgrenzungsbedürfnis sondern um mir selbst die Frage zu beantworten, weshalb der Begriff Cyberspace hier bei uns keine Wurzeln geschlagen hat. Ich versuche zu verstehen, was die Amis sich darunter vorstellen, da doch (-space) von einem Raum die Rede ist, und was wir hier uns eigentlich dabei gedacht haben, stattdem fortwährend von Datenreisen zu sprechen, die jahrelang durch einen begrifflich kaum abgesicherten Tunnel hindurch stattgefunden zu haben scheinen.

Schon der Begriff Netz als eine zweidimensionale, vielfach in sich selbst verbundene Struktur führt leicht auf's Glatteis, wenn man sich dem Gefühl hingibt, an dieser Verknüpftheit und Durchdringung anders als in der Phantasie teilnehmen zu können. Hier rächt sich, daß der Körper außen vor bleibt und nur noch sein sprachlicher Ausdruck durch die Symbolzonen spurt, denen unsere Aufmerksamkeit gilt. Der unschätzbare Vorteil des Körperlichen liegt darin, daß es uns ganz selbstverständlich mit Gleichzeitigkeiten umgehen läßt, Außenreize, die über die Sinne eingeliefert werden, organische Emanationen, Empfindungen, Bewußtseinsfiguren, alles (mehr oder weniger) Eins.

Hier zeigt sich ein anderer Aspekt der literarischen Qualität von Datenreisen: sie zwingt uns in die jahrtausendealte lineare Tradition schriftlicher Übermittlung. In der altägyptischen Schriftkultur zeigen sich massive Anstrengungen, dieser damals noch verhältnismäßig ungewohnten Einschränkung immer wieder ins leibhaftige Viele zu entkommen - Hieroglyphen wurden senkrecht, waagrecht, von rechts nach links oder umgekehrt geschrieben, aber in welche Richtung man auch auszuweichen versuchte, immer folgte erst ein Zeichen dem nächsten. Welches energiereiche Unbehagen Linearität verursacht, sehen wir in unserer Zeit unter anderem auch im Zusammenbruch der staatlichen Strukturen im ehemaligen Ostblock, wo die Menschen nicht länger Schlangestehen, in Zeilen aus Körpern das Warten versinnbildlichen, sondern - was auch immer es ist - das wirkliche Leben wollten.

Datenreisen als alphabetische Abfahrt und Ankunft, zeichenweise. Weder die Bandbreite von Leitungen noch die Täuschungsgeschwindigkeit der Prozessoren, die Zeitscheibchen so rasch verteilen, daß ein Eindruck von Gleichzeitigkeit aufkommt, können verhindern, daß wir immer nur an jeweils einem Faden durch das Netz fahren.

Aus philosophischem Unterhaltungsbedürfnis ("Ontotainment") habe ich mal während einer Hacksession vorgeschlagen, eine Art Leitungslooping zu schlagen, das heißt, wir trugen uns im Computer eines japanischen Forschungszentrum als anwesend ein, führten die Verbindung über einen outdial weiter über ich glaube zwei oder drei Rechenzentren in den Vereinigten Staaten, und von dort aus wieder in das japanische Forschungszentrum, wo wir uns neuerlich als anwesend eintrugen, somit also zweimal am selben Ort waren. Schnickschnack, vielleicht. Aber niemandem kann die Vorstellung gefallen, aus einem weltweiten Ereignisraum, dessen vielfachparallele Leitungen und elektronischen Verarbeitungskapazitäten bevorzugt von Maschinen frequentiert werden, möglicherweise ausgeschlossen zu sein, und zwar nicht wegen einer biologischen, sondern wegen einer kulturgeschichtlichen Unzulänglichkeit in Form des eindimensionalen Text-Vektors.

4. CYBERSPACE ALS HYPE

"Kernraum der persönlichen Raumsphäre ist der Leib. Er schließt nicht mit der Hautgrenze ab. Gerade die Möglichkeit, über die Hautgrenze hinauszugelangen und das jenseits liegende in das eigene Körpergefühl einzubeziehen, gestattet dem Menschen, sich den Raum auf diese Weise zu erobern; eine Erweiterung der Leiblichkeit. Diese Erweiterung kann mit Hilfe eines Instruments ... geschehen, wobei dann das Instrument in der Weise erfahren - im buchstäblichen Sinne 'gefühlt' wird -, als würde es zum Leib gehören."

Alexander Gosztonyi, "Der Raum"

Seit ein paar Monaten ist eines jener Phänomene gewitterhaft massierter Berichterstattung zu beobachten, an dem die ganze Aufregung spürbar wird, mit der Das Moderne sich selbst zu erzeugen sucht: Der Cyberspace-Hype. Es gab Tage, an denen ich keine Zeitschrift mehr aufblättern konnte, ohne auf einen Artikel über Cyberspace und - interessanter Weise - eine Variation immer derselben vier oder fünf Fotos zu stoßen, die eine Dame im Datentaucheranzug, einen sensorgespickten Handschuh u.ä. zeigen.

Die Entwürfe eines elektronischen Erfahrungsraums auf den zurückliegenden Seiten entstammen dem idealistischen oder meinetwegen anarchistischen Selbstverständnis von Subkulturen. Cyberspace als Hype ist eine Marketingstrategie.

Die Art Cyberspace, von der nun die Rede ist, hat vorderhand nichts mit globalen Netzen zu tun. Es geht um das, was Fachleute Die Schnittstelle nennen. Schnittstelle bezeichnet jede Art Vorrichtung, durch die Mensch und Maschine miteinander in Austausch treten können, ob Leuchtdiode oder Laserscanner, mit dem räumliche Formen abgetastet werden. Ein ins Gerät gebauter Lüfter gilt, obwohl beispielsweise durch thermisch bedingte Jammervarianzen des Ventilators signifikante Zustandsveränderungen des Systems kommuniziert werden können, nicht im engeren Sinn der Definition als Schnittstelle.

Daß die Tastatur an den meisten Computern Standardeingabeschnittstelle ist, erfüllt nicht nur Hacker mit Unzufriedenheit, die sich durch den alphabetischen Flaschenhals quetschen müssen. Allerdings erweckt die Entwicklungsarbeit an zunehmend intelligenteren Schnittstellen manchmal den Eindruck, als habe man es mit zunehmend dümmeren Anwendern zu tun. Daß etwa der Einzelhandel die Barcodemarkierungen eingeführt hat heißt nicht, daß die Kassierinnen nicht mehr tippen können, sondern daß Fehlbonierungen vermieden werden sollen und die Abfertigung an der Kasse schneller geht. Dafür klebt nun aber auf jedem Schwung Bananen ein Zettel, auf dem (über dem Barcode) ganz groß BANANEN steht, und ich frage ernsthaft: für wen?, liebe Ausgabeschnittstelle Matrixdrucker, für wen?

In welcher Form sich einem die Funktionsfülle von Computerprogrammen darbieten kann, hat im letzten Jahrzehnt zu Glaubenskriegen zwischen pädagogisch und pragmatisch orientierten Schulen geführt. Während den Pragmatikern Dinge wie etwa eine Art fahrbare HELP-Taste ("Maus"), die die Pädagogen als Bedienungshilfe vorschlugen, nur ein reduktives Lächeln entlocken konnten, prophezeiten die Pädagogen den Pragmatikern ein baldiges Ende der von ihnen bevorzugten dürren Befehlszeilen und kryptischen Anweisungsabbreviaturen. Nun scheint es, als hätten sich beide Seiten zusammengetan, um einen Computer rauszubringen, der sich bedienen läßt, indem man mit offenem Mund dasteht und auf irgendetwas mit dem Finger zeigt, da da da.

Die zweidimensionale Urmutter dieser sogenannten Benutzeroberflächen (ein Begriff, der nichts mit Dermatologie zu tun hat und der einem genauso kehrichthaft an den Gaumen deutscht wie Schnittstelle) wurde in den Siebziger Jahren im kalifornischen Xerox Palo Alto Research Center PARC erdacht, erforscht und unter der Bezeichnung SmallTalk zum Einsatz gebracht. Ihre inspirativen Vorbilder waren Szenen, die in Disney- Trickfilmen gern gezeigt wurden, um die Respektabilität des Mediums Buchs in das anrüchige Medium Film abstrahlen zu lassen: Ein Buch wird aufgeschlagen und das Auge der Kamera fährt immer näher an ein Bild auf der Seite heran, bis es eintaucht in die Landschaftstiefe einer darin bzw. dahinter verborgenen Episode. Ein junger Mann, der PARC einen Nachmittag lang besichtigte, fand die Idee wundervoll, statt undurchsichtiger Betriebssystemkommandos bildhaft nachempfundene Büroutensilien wie Zettel, Schubladen oder einen Mülleimerchen am Bildschirm zu zeigen. Sein Name war Steve Jobs.

Nachdem die Maus und der "Schreibtisch am Bildschirm" zur Selbstverständlichkeit geworden sind, versucht man nun, auch den Rest der Welt rund um den Schreibtisch in den Rechner zu kriegen. "Ein neues Fieber hat Kalifornien erfaßt", schreibt der Journalist und Medienartist Benjamin Heidersberger, "Virtual Reality oder Cyberspace. Unter dem Begriff sammelt sich eine Vielzahl bekannter Technologien, um sich zu einem großen Ziel aufzumachen, nämlich der Entwicklung eines völlig neuen Benutzerinterfaces zum Computer, welches auf der Simulation einer künstlichen Wirklichkeit beruht, die dreidimensional erfahrbar ist, in der man sich zu befinden glaubt, auf welche man ebenfalls durch die Simulation einer Hand oder eines Körpers Einfluß nehmen kann."

Ich kenne das Fieber, dem unter anderem semantische Doppelrittberger wie die Simulation einer künstlichen Wirklichkeit entspringen, aus eigener Erfahrung; einer der Gründe, weshalb ich mir dem publizistischen Neuaufguß von Cyberspace gegenüber eine gewisse Kamillenteehaftigkeit vorbehalten möchte. Es ist das Hype-Fieber, dem jeder User von Zeit zu Zeit anheimfällt, weil die Industrie wieder mal kräftig Wind(ows) gemacht hat. Wir User lieben das. Wie bei gemeiner Grippe erkrankt man an den jeweiligen saisonalen Varianten, Datenfernübertragung, Teststop-Publishing ("Schreibtischoberflächenveröffentlichung"), objektorientierte Programmierung, name it.

Was mich diesmal mißtrauisch macht: Während es sich bei den zurückliegenden Hypes großteils um die Verfügbarmachung von Produktionsressourcen handelte, die für private Anwender noch kurze Zeit zuvor unerreichbar waren, ist Cyberspace ökonomisch elitär, das heißt schweineteuer. Militär, Forschung und Privatwirtschaft sind in der Zwischenzeit gut eingedeckt mit richtiger Rechenpower; das große Geld liegt auf absehbare Zeit offenbar in der Erschließung eines Massenmarkts für jene Computerkategorie, die derzeit über der für die meisten privaten User eben noch erschwinglichen '386er-Klasse liegt: Workstations.

Da aber die pure, in MOPS (Million Operations Per Second), GIPS (Giga Instructions Per Second), Whetstone, Drhystone oder Landmark bemessene Rechnerleistung längst nicht mehr ausreicht, um dem Personal Consumer 20.000 oder 30.000 Mark aus der Tasche zu ziehen, und die Newsletters bereits bei teuren Armbanduhren einen höchst beunruhigenden Trend zurück zur analogen Zeigertechnik vermelden, müssen sinnfällige Software und hinreichend amüsantes Zubehör geboten werden; günstigenfalls wird eine komplette Zukunftsvision gratis beigelegt.

Was sich an Firmen, Konzepten und Prototypen unter dem zu Werbezwecken einkassierten Cyberspace-Titel versammelt, scheint im Tenor eines deutlich zu machen: Man hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei dem Versuch gemacht, zu beweisen, daß man Computer auch anziehen kann. Was Cyberspace für einen Hype derzeit so überaus attraktiv macht, ist vor allem das fotogen monströse Equipment, das der Cybertaucher anzulegen hat.

Altlinken und Weichholzköpfen graut vor der neuzeitlichen Erscheinungsform der Entfremdung, derzufolge sich die ersten Leute nun offensichtlich bei lebendigem Leib in Fernsehapparate einbauen lassen, um die authentische Umwelt der apokalyptokapitalistischen Verderbnis anheimfallen zu lassen; Computerfreaks erigiert der Kreditrahmen, wenn sie Dinge wie "3D- Echtzeitanimation mit verdeckten Flächen und Phong- Shading" oder "ihre Iris-Workstation benutzt 11 Geometric Engines" vernehmen; und normalitätsgestützte User freuen sich präventiv über die argumentativen milden Gaben, die es ihnen auf's neue ermöglichen werden, sich vor eine Riesenspielkiste zu setzen und dabei ein professionell ernstes Gesicht zu machen.

5. REALITY ENGINES

" animiert die Objekte und ermöglicht Interaktionen in der virtuellen Realität. Das Programm akzeptiert editierbare 3D- Drahtgittermodelle, sammelt die Rohdaten der Sensoren aus Ethernet und einem VPL-eigenen Synchronisationsbus, um die Animation schnellstmöglich am korrekten VR-Ort zu errechnen."

Thomas Hamberger, "Schein und Sein"

Zu den Läden, in denen seit Jahren, teils Jahrzehnten an, nowname, Cyberzeug gearbeitet wird, gehören Firmen wie Krupp-Atlas oder Evans & Sutherland, weltgrößter Hersteller von Echtzeitsimulatoren, zu deren Auftraggebern neben dem US-Verteidigungsministerium und der NATO auch diverse Fluggesellschaften und Mercedes-Benz mit dem in Berlin befindlichen einzigen zivilen Fahrsimulator gehören. Gründerhälfte Ivan Sutherland bastelte bereits 1965 ein 3D-Display mit einer Bildröhre für jedes Auge, dessen Gewicht allerdings athletische Konstitution verlangte. Piloten, die in den Simulationsdomen heutiger Evans & Sutherland-Reality Engines wie CT- 10 sitzen, erhalten, neben einer perfekten Geräuschkulisse und hydraulisch erarbeiteten Fliehkräften, durch ein speziell polarisiertes Visier ein raumtiefes Abbild ihrer im Rechner erzeugten Umgebung vermittelt, das realistisch bis hin zu den Abriebspuren vom Gummi der Kampfjägerreifen an Deck eines Flugzeugträgers ist. Da das Militär Hauptkunde ist, halten sich solche Unternehmen, was das ganze Cyberspektakel angeht, bedeckt.

Spektakelfreudiger zeigt man sich am Media Laboratory des Bostoner Massachusets Institute of Technology MIT, dem Vatikan der Computerzukunftsgläubigen. Seit Jahren werkeln hier begabte Studenten, Dozenten mit Danieldüsentriebmentalität und legendär lumineszierende Professoren an Methoden zur automatischen Blickverfolgung ("eye tracking"), kräfteempfindlicher Sensorik ("force feedback"), dackelartig dressierbaren Arbeitsplätzen ("intelligent desktop") oder computerisierten Körperbewegungsmeldern ("full body tracking suit"). Der User von Morgen, im Media Lab als prototypischer Geist stets abrufbar, soll nicht mehr der Zumutung ausgesetzt werden, mit einem neosilithischen Mauspfeil am Bildschirm herumzustochern, sondern sozusagen mit sich selbst als Mauspfeil durchs tiefe Tal der Datensymbolismen jägern und sammlern.

Die NASA, durch die Challenger-Katastrophe und zunehmend heftigere Kritik an der unverhältnismäßig teuren bemannten Raumfahrt schon länger auf der Suche nach einem Ausweichkurs, läßt cyberspaciale Möglichkeiten erforschen, zum Beispiel die eines Datenhandschuhs (data glove"), der feine Greifbewegungen übermittlungsfähig macht. Man sucht nach Methoden, etwa Wartungsarbeiten an Satelliten durchführen zu können, ohne daß die Astronauten dazu das Space Shuttle verlassen müssen; gegebenenfalls sogar, um manuelle Tätigkeiten in unbemannten Stationen oder auf transplanetaren Expeditionen via Fernwirkung vom irdischen Boden aus zu verrichten.

Die Erfahrung des Fernwirkens, die in Hackern manchmal diffuse Allmachtgefühle weckt, schließt allgemein den Eindruck einer technischen Realisierbarkeit vordem als übersinnlich konzipierter Kräfte (Telekinese) ein. Auch das Gedankenlesen (Telepathie) befindet sich bereits in einer Phase wenngleich grob auflösender Laborgerätschaften, die erste Experimente diesseits unseriöser Ausdeutungen von Gehirnstrommustern ermöglichen. "Eine Auswertung der EEG-Signale im wissenschaftlichen Sinne wird bei dem Cyberspace- Projekt nicht angestrebt", heißt es in einem Arbeitsbericht des Kölner Instituts für Kommunikation, "Vielmehr ergibt sich durch den Rückkopplungs-Prozeß eher empirisch (im Volksmund "durch ausprobieren"), welche Teile des EEG-Signals bewußt steuerbar sind".

Im Ames Research Center der NASA auf der US Air Force Base in Moffet Field, Kalifornien, arbeiten Dr. Michael McGreevy und einige ehemalige Mitarbeiter der Computerfirma Atari an simulierten Reisen durch unser Sonnensystem - eine Mischung aus Disneyworld, Sensorround- Kino und Planetarium; Teleportation also, um die Reihe an raumgreifenden Möglichkeiten fortzusetzen, die vormals SF-Mutanten vorbehalten waren.

Deutlich wird nun bei all diesen Unterfangen also das vordringliche Bemühen, auch den Mangel an Körperhaftigkeit oder organischer Vielheit zu beheben, der die bisherige lineare Beschränkung der Verständigungsmedien bedingt. Der Anspruch der einzelnen Medien, Entfernung zu überbrücken, soll auf das digitale Medium gebündelt und totalisiert werden. Bislang zentral oder starr verlaufenden Informationsströme sollen individualisiert werden. Die Begriffe "interaktiv" und "persönlich" werden zu Schlüsselbegriffen für die angepeilten Qualitäten postindustrieller Produkte.

Nun geht es nicht mehr um eine gedachte, gekabelte oder gefunkte Linie von Hier nach Dort, sondern um die Summe aller Linien von überallhin nach überallhin: den Raum. Und zwar nicht um eine naturalistische oder fotorealistische Abspiegelung unserer vitalen Umgebung, sondern um ein funktionales Destillat (also: teuer und berauschend). Es ist ein Raum, der sich erst aus seinen Zutrittsmöglichkeiten ergibt. In Abwandlung einer taoistischen Sentenz könnte man sagen: Die Tür ist das Ziel. Ohne Die Schnittstelle ist dieser Raum bedeutungslos. Cyberspace soll alle technischen Ansätze zur Distanzüberbrückung, auch symbolischer Distanzen wie der Entfernung zwischen natürlicher Sprache und Maschinensprache, obsolet machen, indem Der Ganze Raum - eine auf ausschließlich menschliche Bedürfnisse zugeschnittene Weltlichkeit - in Software geformt ständig am Ort des Anwenders präsent gehalten wird. Die Verheißung lautet: Jedem sein ganz persönliches Universum.

Ein Konzept, das auf bemerkenswerte Weise zu tun hat mit den Versuchen zur medialen Körperhaftigkeit, kann ich hier nur am Rand erwähnen: die Parallelverarbeitung (Transputing). Von vielen als netzwerkbemäntelte Gier nach Rechenleistungssteigerung unterschätzt, stellen die mehrdimensional miteinander verbundenen Prozessoren diejenigen, die sie zu programmieren versuchen, erst einmal vor fundamentale Fragen. Können Menschen rational in Gleichzeitigkeiten denken, etwa so wie Orchesterkomponisten in Melodiescharen? Können uns nachfolgende Generationen eine solche Fertigkeit, sofern sie erlernbar sein sollte, zu einer Tradition entwickeln, welche die Einschränkungen linearer, alphabetischer Denkweisen überschreitet?

Die Raumfahrt, bis vor nicht allzu langer Zeit noch Synonym für die Umsetzung technischer Utopien, macht deutlich, wie sich nicht nur die Zeiten, sondern auch die Welträume ändern. Die quasireligiöse Begeisterung an bemannten Raumexpeditionen, die in den Sechziger Jahren herrschte, ist - ganz im Wortsinn - verflogen, und mit ihr eine expansive Drift, die eine lange historische Entwicklung abzuschließen scheint: Das Zeitalter der Eroberungen. Nachdem die geographischen Räume des Planeten verteilt sind (wohin Versuche militärischer Landnahme heute führen, zeigt der Einmarsch des Irak in Kuwait), dringt die Hochtechnologie mit immer verfeinerteren Mitteln in reale, der unmittelbaren menschlichen Sinneswahrnehmung unzugängliche Bereiche (z.B. durch Endoskopie) und, was uns hier besonders interessiert, in imaginative Räume. Cyberspace löst Outerspace ab; die NASA wendet sich dem Versuch der Introversion von Weltraum zu.

Widmet man eine Bemerkung Tucholskys über die Soziologie ("Mißbrauch einer eigens zu diesem Zweck geschaffenen Terminologie") auf den Schnittstellen-Cyberspace um, könnte man sagen, menschlicher Eroberungs- und Erkundungsdrang sollen sich also hinkünftig in eigens zu dessen Perpetuierung erschaffenen algorithmischen Komplexen mit dem Charakter raffinierter Sinnestäuschungen ergehen.

An zahlreichen anderen Stellen wird seit Jahren ebenfalls an Methoden computerisierter räumlicher Vermittlung gearbeitet. Architekten interessieren sich für die virtuelle Begehung oder Einrichtung eines im Datengerüst vorhandenen Bauwerks und eine dadurch eventuell mögliche verbesserte Verständigung mit dem Bauherrn. Designstudenten nehmen an virtuellen Körperabbildern Kostümproben vor, gestalten materiallose Modelle und flexible Vorformen; nutzen die Gelegenheit "eine Idee probezufliegen" (wie es in den Flugsimulatoren heißt, in denen Gerätschaften bis hin zu den physikalischen Materialeigenschaften getestet werden können, ohne daß noch eine reale Schraube existiert). Molekularbiologen kommen durch räumliche Abbilder großer Proteinmoleküle zu grundlegenden Einsichten in komplexe mikrobiologische Prozesse - Forschungen, wie sie z.B. am European Molecular Biology Laboratory EMBL in Heidelberg durchgeführt werden (dessen Rechenzentrum, nebenbei, zu den von Hackern bevorzugt frequentierten Netzknoten anläßlich des NASA-Coups gehörte).

Die Firmen, die am meisten Cyberlärm machen, sind alle im Umkreis von ungefähr einer Autostunde im Neandertal der Neuzeit angesiedelt, dem kalifornischen Silicon Valley. Menschen, die eine Neigung zu Verschwörungstheorien haben, stellen sich einfach ein paar (inzwischen) Twens vor, die alle nette, gutgehende Computerunternehmen haben, die sich öfter mal in der selben Kneipe auf ein Bier (light) treffen, und die sich nun dazu entschlossen haben, gemeinsam die Marketingversion eines indianischen Regentanzes aufzuführen (Oh großer Moneytu).

Die Firma Autodesk (Sausalito, Ca.) erlangte Bekanntheit durch ihr Konstruktionsprogramm AutoCAD, das inzwischen zu einem Standard geworden ist. Firmengründer John Walker gehört zu den engagiertesten Cyberspace-Propagandisten. In einem firmeninternen Positionspapier heißt es: "Autodesk könnte gleichbedeutend werden mit einer der aufregendsten Entwicklungen, die jemals in der Computerindustrie passieren werden; einer Entwicklung, die die gesamte Gestalt der Industrie ein Jahrzehnt lang bestimmen könnte".

Der hymnische Ton erinnert an die Ankündigung einer revolutionären Generation von Haushaltsgeräten vor etwa drei Jahren - den Trendtrüffelschweinen zufolge das nächste ganz dicke Ding aus dem Wunder- Valley -, die dann aber wieder ins Ideenkühlfach mußte, da sich die Fähigkeiten der Boden- respektive Geländeerkennung, mit der etwa Marschflugkörper ausgestattet sind, in absehbarer Zeit doch noch nicht auf einen autonom die Wohnung durchkriechenden Staubsauger übertragen lassen; oder an das Gerede über die Revolution in der Computergrafik, die mit der Einführung des Buchdrucks durch Gutenberg gleichzusetzen sei, wie John Whitney jr. von der inzwischen pleite gegangenen Firma Digital Productions sich einmal emphatisch ausdrücken zu müssen meinte.

Nichtsdestotrotz sind bei Autodesk in limitierter Edition bereits Cyberspace- Sets zu kaufen, bestehend aus einem mit Grafikprozessoren toupierten 386er-Rechner, einem Datenhandschuh, einer Datentaucherbrille ("eyephone") und den zur Ortung des Anwenders im Raum nötigen Polhemus- Sensoren. Naheliegend, daß als softwareseitige Weltbasis die firmeneigenen Programme AutoCAD und AutoShade Verwendung finden. Auf die Anfertigung speziellen Cyberzubehörs wie der Datentaucherbrillen spezialisiert hat sich der vormalige Autodesk- Mitarbeiter Erich Gullichsen, der die Firma Sens8 gründete "um Virtual Reality-Systeme zu vermarkten".

Die Hardware-Triebwerke, die für grafische Echtzeitdarstellungen nötig sind, kommen - verschwörungsgerecht - aus Firmen in der Nachbarschaft. So fertigen Unternehmen wie Weitek Corp oder MIPS Computer (beide Sunnyvale, Ca.) Mathematik-Coprozessoren, Vektor-Chipsets und Beschleunigerkarten, die sich hervorragend als Booster für künstliche Bilder eignen.

Der Markt der digitalen Power-Schüsseln, die über die zum Aufbau mindestkomfortabler virtueller Realitäten erforderliche Leistungsfähigkeit verfügen, ist dicht bedrängelt. Workstation- Hersteller wie Sun Microsystems (Mountain View, Ca.), Hewlett Packard (Palo Alto, Ca.), InterGraph (Ausreißer: Huntsville, Al.) oder Silicon Graphics (Mountain View, Ca.) balgen sich um Absatzpositionen für ihre Maschinen. Außerhalb der heimeligen Verschwörungstheorie sind natürlich auch noch europäische und vor allem japanische Anbieter an dem Markt beteiligt.

Silicon Graphics Iris-4D Workstations - eine pro Auge -, ein sehr schneller Apple MacIntosh II als "front end" und eine EtherNet- Datendurchreiche bilden das elektronische Grundsystem der derzeitigen Edelversion nichtmilitärischer künstlicher Wirklichkeit, welche die Firma VPL (Redwood City, Ca.) für ungefähr eine Viertelmillion Dollar anbietet. VPL verkauft neben hauseigenen Datenklamotten (data glove, data suit, data shoes, eyephone) auch ein RB-2 ("reality built for 2") genanntes Zwei-User- System - der erste Schritt zur Verbindung der Schnittstellenexperimente mit der Netzwerkkonstitution der ursprünglichen Cyberspace-Vorstellungen.

Mastermind der Firma und Epizentrum des Cyberspace-Hypes ist VPL- Gründer Jaron Lanier, ein Dreadlock-frisierter Universalist, der auf unnachahmlich amerikanische Weise geniefunkelndes Gaudium und Geldverdienen ineins bringt. "Wahrscheinlich hat er es geschafft, eine poetisch-künstlerische Komponente in die Sache zu bringen und Cyberspace ... für jedermann interessant zu machen, besonders aber für die Geschäftswelt" (Heidersberger). Der 7. Juni wurde bei VPL zum Feiertag erklärt, dem "Tag der Virtuellen Realität".

VPL vergibt Lizenzen zur Weiterentwicklung von Hardware und Software, wodurch sich möglicherweise eine ähnliche Problemlage ergeben wird wie anläßlich der Patentierung gentechnisch umgestalteter Lebensformen: Urheberrechtsansprüche auf bislang dem Menschen uneigene und nunmehr technisch okuppierte Bereiche der Welt.

Um ihre bisherige Entwicklungsarbeit zu fundamentieren, sind Unternehmen wie VPL sehr daran interessiert, Einfluß auf Normierungen zu nehmen. Neben Beiträgen zu einem industrieweiten Projected Hierarchical Interactive Graphics Standard (PHIGS) verhandeln VPL und Autodesk über ein Virtual- Reality-Dateiformat, ähnlich dem seit einigen Jahren verfügbaren MIDI- Format zum standardisierten Austausch digitaler Musik.

Was den Auftritt der Japaner auf der Cyberbühne angeht, so fällt mir dazu eine Szene aus dem Film "Sans Soleil" ein, in der man Schätze aus dem Vatikanmuseum sah, die Rom seit Jahrhunderten nicht mehr verlassen haben und die nun hinter Panzerglas in einem japanischen Großkaufhaus ausgestellt waren. Vor den Glaskästen Einheimische "mit diesem Schimmer von Industriespionage in den Augen, der einen zu der Annahme verleitet, die Japaner könnten in ein paar Jahren mit einer billigeren und etwas leistungsfähigeren Version des Katholizismus rauskommen".

Die japanische Nintendo Corporation, marktführender Hersteller von Videospielen, verkauft - über den US-Spielwarenhersteller Mattel als Lizenznehmer - unter der Bezeichnung "power glove" für etwa 80 Dollar eine Sparversion des Datenhandschuhs mit zwar grober, aber für Videospiele ausreichender Raumauflösung. In den USA sind mehr als die Hälfte aller Haushalte mit Heimvideospielen ausgestattet, insgesamt mehr als 20 Millionen Stück. Nach einem Tief in den letzten Jahren steigt der Bedarf derzeit wieder steil nach oben. Der Umsatz mit Cyberspace-Zusatzgeräten wird auf vorerst ungefähr eine halbe Milliarde Dollar geschätzt.

Ein Mittelweg zwischen den zweidimensionalen grafischen Benutzeroberflächen und dem ganzkörperlichen Eintreten in die Datensphäre wird von Künstlern beschritten, etwa der deutsch- österreichischen Gruppe Minus Delta t ("Hotel Pompino", "University TV") oder dem Amerikaner Myron Krueger ("VideoPlace"). Grundlage bildet das Mischen zweier Video- Bildebenen, wie man es von dem altbewährten Bluebox-Verfahren her kennt. Unterschiedlich aufwendige Hardware verfolgt die Umrisse einer auf den Bildschirm geblueboxten Person und meldet eventuelle Überschneidungen mit viereckigen Bildschirmbereichen, die man zuvor als "Knöpfe", oder wie auch immer sichtbare oder unsichtbare berührungssensitive Bereiche festlegen kann. Gegenüber den VR-Produkten, die eine Art Käfiguration oder High Tech- Rüstung um den User herum erforderlich machen, kann sich der Video- Cybernaut innerhalb des Kamerablickwinkels frei bewegen.

6. VISION UND WACKLIGKEIT

"Mitunter wird der Ätherleib zunächst masselos an oft weit entfernte Plätze gedanklich dirigiert und erst dort ektoplasmatisch materialisiert. ... 1897 wurde der Abgeordnete T. P. O'Connor als stummer Teilnehmer im englischen Oberhaus gesehen, während er sich auf einer Irlandreise befand, und 1905 erging es einem Kollegen von ihm ähnlich, während er zu Hause krank im Bett lag. Sein Doppelgänger sprach mit niemandem und erwiderte auch keinen Gruß, ebensowenig wie Helmut von Moltke, dessen Doppel kurz vor seinem Tode im Generalsgebäude auftauchte und von der Wache mit präsentiertem Gewehr begrüßt wurde."

E. John Spee, "Die geistige Welt"

"Cyberspace heißt das neue Medium, mit dem Wissenschaftler die Wahrnehmung revolutionieren wollen ... das elektronisch produzierte Reizniveau soll nicht nur mit dem Erlebnis der natürlichen Umwelt konkurrieren, sondern darüber hinaus, so verspricht der Hersteller, transzendiere die sinnliche Erfahrung des Cyberraums die unfrisierte menschliche Wahrnehmung", so ein erstaunlich humorloser Rezensus, dem Satiremagazin "Titanic" entnommen.

Der schlecht gelaunte Versuch, eine Vision von Cyberspace zu formulieren, zeigt Ironie in dem einem unbestimmten Hersteller unterschobenen "transzendiere", paradeparodistische Lieblingsvokabel wahrer wie auch simulierter Adorno-Fans, und in der stimmig nachfolgenden "unfrisierten Wahrnehmung", die mich an einen Langhaarigen erinnert, der nicht mehr durch seine Frisur nach vorne sieht. Während also eine bestimmte Strömung der deutschen Linken sorgsam ihre traumatische Angst vor der Steckdose und den damit verbundenen computerstürmerischen Gestus pflegt und in der Ablehnung zu einer Art von negativen Klarheit kommt, bleiben die meisten anderwärtigen Konturen von Cyberspace-Visionen unscharf.

Die literarischen Entwürfe liegen zumeist in jenem Bereich des Ungefähren, der einerseits eine Qualität der poetischen Methode, andererseits aber stets gefährdet ist, statt der Verdeutlichungsanstrengung einem bloß vermeintlich ausdrücklichen Irgendwie nachzugeben. In diesem Sinn ist, was Gibson "undenkbare Vielfältigkeit" nennt (s. Zitat 1. Kapitel), schlicht schriftstellerische Faulheit, das Undenkbare, wenn es schon vielfältig ist, auch gefälligst explizit auszudenken und zu beschreiben. Manche Beschreibungen lassen den Cyberspace eher als Circaspace erscheinen. "Um ihn herum flossen Freiformgestalten in Blaßrosa von der Decke zur Wand und zum Boden. Sie wandelten sich, und dunkle, malvenfarbene Umrisse veränderten sich mit ihnen, als das Dekorationsprogramm seine Abstraktionen entfaltete." (Tom Maddox, "MorgenWelten"). "Auf dem Sony verschwand ein zweidimensionaler Raumkrieg hinter einem Wald mathematisch generierter Farne und zeigte die räumlichen Möglichkeiten logarithmischer Spiralen. ... Linien aus Licht flogen im Nichtraum des Geistes, Haufen und Anordnungen von Daten." (William Gibson, "Neuromancer")

Auch die Eindrücke und Erfahrungen, die Hacker während ihrer Sessions im zurückliegenden Jahrzehnt sammelten, blieben aus verschiedenen Gründen bedauerlich vage. Dazu gehört, daß viele Hacker das Vergnügen an der unirdischen Geschwindigkeit und den Anflügen von Omnipotenzgefühl getrübt sahen durch die Verlangsamung, die das verbale Formulieren unvermeidlich nach sich zieht.

"Virtuelle Realität hat die Objektivität der Physik und die Offenheit der Imagination", sagt Jaron Lanier, "zwei Dinge, die bisher noch nie kombiniert wurden." Wir lassen das mal so im Raum stehen und betrachten die physikalische, will sagen positivistisch überprüfbare Seite; das, was an Vision bisher in die Realität ausgeflockt ist. Der Begriff "Künstliche Wirklichkeit" erscheint angesichts der Leistungen verfügbarer Publikumsversionen von Cyberspace-Gerätschaft doch noch ziemlich hoch gegriffen.

Was derzeit zu sehen ist, entspricht weniger einem Space als vielmehr einer Art Raum-Ruine, einem fragmentarischen Raum, der außer einem Tiefeneindruck wenig von der Umfassendheit und Durchdringung vermittelt, als die uns Raum gewöhnlich erscheint. Roh schattierte Bilddinge ruckeln über den Schirm respektive das Eyephone-Panorama, eine polygonale Hand schwebt taktil stotternd durch plump möblierte Räume, Echtzeit vermittelt sich als quasi olympische Rechen- Anstrengung, Ächzzeit. Cyberspace- Visualisierungen verursachen im Augenblick noch den typischen Ingenieurs- Thrill: Fachleute erschaudern, indem sie die Hardware- und Programmierleistungen goutieren; und Laien sind nach einer kurzen Spieleuphorie eher enttäuscht über das Unverhältnis von Aufwand und Ergebnis.

Hauptursache der Klobigkeit, die den Cyberraum erfüllt, ist bemerkenswerter Weise seine präzise mathematische Basis, respektive der große Aufwand an Einzelberechnungen, die für jedes darzustellende Detail anfallen. Sogar das Nichts, in anderen Weltentwürfen philosophisch problematisch, läßt sich in diesem informatischen Raum einfach als Ausschlußmenge definieren: alles, was sich außerhalb des Datenstamms befindet. Die Erde wird wieder zur Scheibe - wahlweise einer Diskette, einer Festplatte oder einer CD -, an deren Rand die Leere gähnt. Bei Schwarzen Löchern sprechen Astrophysiker in diesem Zusammenhang vom "Ereignishorizont".

Die mathematische Struktur aller gegenwärtigen Cyberspaces folgt den Regeln der euklidischen Geometrie. Deren idealisierte Formen - Punkt, Linie, Kurve, Fläche, Körper - eignen sich denkbar schlecht zur Beschreibung natürlicher Gestaltmerkmale und Dynamiken, beispielsweise von organischen Formen oder Körperbewegungen. Aus starren Achsen und Freiheitsgraden zusammengestöpselte Klötzchenwesenheiten vermitteln deshalb einen Eindruck wie in einem billigen Puppentrickfilm, auch wenn es sich bei den sensorisch übertragenen Bewegungen des Cyber- Anwenders um Blaupausen der natürlichen Abläufe handelt.

Das erst seit wenigen Jahren eröffnete Gebiet der fraktalen Geometrie, die sich mit "ungeraden" Dimensionen beschäftigt und rechnerische Entwürfe sehr naturnaher Formen möglich macht, erfordert Rechenpower, die noch um einige Größenordnungen über der für euklidische Verfahren liegt, sodaß uns das gehoben Strichmännchenhafte zeitgenössischer Cyberspaces wohl noch über längere Zeit erhalten bleiben wird; so lange jedenfalls, bis Rechenleistung, die die heutiger Supercomputer übertrifft, handlich und in großen Stückzahlen verfügbar gemacht werden kann.

Ausgeklügelte Programme etwa zur fotorealistischen Darstellung im Rechner entworfener Szenarien gibt es schon lange. An Programmen, die außer den optischen auch noch mechanische und kinetische Eigenschaften einer Cyberwelt berücksichtigen, wird gearbeitet. Die Anforderung, die solche Programme an einen Rechner stellen, liegen immer noch im Bereich von mehreren Stunden bis günstigstenfalls einigen Minuten für ein Einzelbild, während erst eine Folge von mindestens zehn Einzelbildern pro Sekunde für einen Eindruck einigermaßen fließender Bewegung sorgt. So gesehen ist Cyberspace, Stand der Dinge, etwas wie die begehbare Version eines Schmierzettels.

"Es handelt sich um die Produktion von Tagträumen mittels Computer", zitiert die "Titanic" einen BMW-Manager, der sich in einem Informationsdienst über Cyberspace ausläßt. "Der Reisende selbst steuert durch seine Phantasien diejenigen Reisen, zu denen er in seiner Phantasie nicht fähig gewesen wäre." T-Raum den einen, Alptraum den anderen, schnöde Hervorbringung der Phantasielosigkeit von Ingenieuren, technische Körperwerdung des ganzen Planeten über Leitungsnetze als Entsprechungen des Nervensystems, Geisterbahn für High Tech-Fredis, Instant-Raum für Menschen mit obdachlosem Vorstellungsvermögen, Überspace, unermeßliches Ideentestgelände, neuronautische Kapsel, übergeschnapptes Videospiel - die unterschiedlichen Cyberspace-Auffassungen stimmen darin überein, daß es sich um einen Versuch handelt, Raum zu vermitteln. Geht das überhaupt?

7. EINE KLEINE GESCHICHTE DES RAUMS

"Wir leben in einer bemerkenswerten Zeit, in der man beginnt, philosophische Fragen allmählich experimentell zu erklären."

Abner Shimony, "Die Realität der Quantenwelt"

Folgen wir einer verbreiteten Ansicht, so hat es schon etwas gegeben, noch ehe es Menschen gab. Die maßgebliche Qualität dieser vormenschlichen Vorhandenheit ist Raum. Raum hat damit zu tun, daß man nicht aus dem Sonnensystem fällt, wenn man einen Schritt nach vorne macht. Ohne Raum ist kein Kosmos denkbar. Zu den interessanten Eigenschaften dieses zuallerersten Raums gehört, daß er in unserer Sprache männlichen Geschlechts ist und eine beinahe schon stoffliche Vordringlichkeit anklingen lassen möchte, die ihm nicht zusteht, da der Raum doch die Welt in sich trägt; daß er, physikalisch, weder Energie noch Masse hat; und daß man ihn sich weder mit noch ohne Grenzen recht vorstellen kann. Raum ist das schlechthin Unfaßbare.

"Das Wirkliche", nörgelt der Philosoph Theodor Lipp, "kann nicht mit dem in sich widersinnigen Etwas, das wir Raum nennen, behaftet sein"; übrigens eine durch und durch europäische Auffassung. Zweifellos aber haftet dem Wirklichen das Rätsel'hafte' an, und dem Menschen das wesenstiefe Bedürfnis, das unerklärte bloße Dasein der Weltdinge, sich selbst eingeschlossen, um stets neue Vorstellungsräume und Denkdimensionen zu erweitern und die Schöpfung in ein ins Stofflose verfeinertes Universum aus Zeichen und Bedeutungen fortwachsen zu lassen.

In dem Zusammenhang kann man den Computer als ein hochinteressantes Erkenntnisinstrument sehen - sofern man sich mit dem beschäftigt, was er nicht kann. Der Forschungsbereich "Künstliche Intelligenz" beispielsweise hat nach mehr als dreißig Jahren angestrengter Arbeit zu einigen sehr bescheidenen Softwareergebnissen geführt; viel aufregender waren die über den Versuch der Umsetzung in Computermodelle gewonnenen neuen Aspekte der Frage "Was ist Intelligenz?". Ähnliches gilt für die computergrafische räumliche Nachbildung natürlicher Gestalten, die eine meditativ eingehende Beschäftigung mit den nachzubildenden Objekten erfordert. So besteht nach meiner Auffassung der Hauptgewinn aus dem ganzen Cyberspace- Rummel auf lange Sicht in der Inspiration, die er auf unsere Vorstellungen von dem ausübt, was Raum ist.

Wann Raum als menschliches Phänomen in Erscheinung getreten ist, läßt sich erahnen. Die hominide Stammesgeschichte führt, wie die aller Lebewesen, zurück in den Urozean. Das genetische Erbe der archaischen, erdumfassenden Wasserweite trägt ein jeder von uns in sich als äonentiefes, endloses Raumgefühl, in dem der Geist, das Ich, die Seele gewichtlos schwebt. Raum als Problem wird erstmals vor einigen Millionen Jahren in Erscheinung getreten sein, als ein noch unerklärlicher Wachstumsschub für eine kleine, aber wirkungsmächtige Zunahme an Gehirn sorgte. Die menschliche Großhirnrinde, komplexeste organische und organisierende Struktur, die wir kennen, produzierte in den vorzeitlichen Phasen ihres Anwachsens neben verfeinerten Überlebensstrategien mutmaßlich vor allem Unruhe. Ein beängstigender Bereich - das Bewußtsein - war im Begriff sich zu öffnen; die eigentlich anthropomorphe Sphäre.

Bewußtsein wurde erst möglich durch eine grundlegende Distanz, ein Ausrücken aus dem geschlossenen Gefüge von Überlebensnotwendigkeiten, Reflexen und Instinktfolgen, das den vorbewußten Menschen vollkommen in sich aufgenommen hatte. In der jahrhunderttausendelangen Aufdämmerung des Denkraums herrschten im Wortsinn ungeheuerliche, von Unschärfen ausgelöste Ängste. Eine furchterregende Zunahme an Welt fand statt. Lange Zeit blieb für den Menschen wohl ungewiß, was äußeres und was inneres Ereignis war, Traum oder Wachen, Kontur, Grenze, Halt. Wie war auf die nur als Schemen lebendigen, ungreifbaren Tiere, Menschen, nie gekanntenWesen zu reagieren, die nun den neuen zerebralen Fähigkeiten entsprechend und Realität einfordernd in Erscheinung traten? Zum "Bild", das alles Körperliche in der Welt wie eine Haut an sich trug, kam das "Zeichen", das erjagte, gehäutete Bild ohne Körper.

Im Vorland des Kilimandscharo, an der Grenze zwischen Kenia und Tansania, liegt Amboseli, in der Sprache der Massai die "leere Weite". Hier etwa läßt sich der Urraum denken, der sich aus den Köpfen der ersten Menschen in die Welt ausbreitete. Vor zwei Millionen Jahren glühten die Berge hier von heißem Vulkanismus. Neben biologischen Ursachen wird die Beherrschung des Feuers eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des Bewußtseinsraums gespielt haben. Im Schutz des von allen anderen Lebewesen gefürchteten Feuers konnte der Mensch die ununterbrochene kreatürliche Anspannung ablegen, die eine zu jeder Sekunde gefährliche Umwelt nötig machte, und einen mythischen Moment erleben - Frieden -, der im Inbild des Paradieses, der wundervollen, bezähmten Region, in uns fortlebt. In dem Traum einer von allem Menschbedrohenden bereinigten Welt wurzelt auch Cyberspace.

Bau und Höhle in der materiellen Umgebung der Vorzeit entsprach der Lichtraum des Feuers in der Nacht; eine Höhle, ein Zelt aus Licht. Feuer ist eine stete Quelle von Raum. Nachts flackerte heller Raum aus den Flammen, schlug eine Grotte ins schwarze, untiefe Dunkel, und die Funken flogen hoch bis zu den Sternen und wurden selbst Sterne. Wie groß ist die Welt, von hier zu den Sternen?, aus einem Gefühl wie diesem entfalteten sich, Generation für Generation, die Weltenräume der Menschen; ein schmerzlich gedehntes Strahlen in der Brust von dem Blick hinaus in das Weltgeheimnis.

Und einmal sah ein Mensch am nächtlichen Firmament keine bergende Grenze mehr, sondern eine Offenheit des Himmels - den Einblick in die Unendlichkeit. Auf die Idee des Unendlichen beziehungsweise des Unbegrenzten kommt man, sagte Aristoteles, weil "im Denken kein Aufhören ist". Kontrapunkt dieser Freiheit, die in alle Weiten weist, ist der Horror Vacui, oder wie Pascal es ausdrückte: "Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern".

Aus dem Feuer kommt der Mut, zu denken. Auch heute noch sehen wir die Zungen der Flammen, und wie sie in Gestalten und Bildern zu uns sprechen und Raum bilden. Raum ist jenes unerschöpfliche Fassungsvermögen an Strukturen, deren jede wir eine Realität nennen, wenn sie auch bloß in der Vorstellung ist. Und wir fühlen mehr als wir sehen den Ort, der zugleich im Feuer ist, im Licht und in uns, in dem uns neben allem Geist und bildhaften Ahnen die Geister heimsuchen, die Toten.

Was wir Jenseits nennen, war zu jeder Zeit gegenwärtig, das "Land im Westen", wie die Alten Ägypter es nannten, das "Fernsehen", wie wir heute sagen, wo neben den Lebenden auch sternengleich fortbestehen kann, wer längst tot und verwest ist, in einer Ewigkeit aus Bildern. So zeigt sich Cyberspace-Technologie als Ausdruck des Wunschs, in ein Jenseits eintreten zu können, den stofflosen Seelenraum; ein "jenseits des Körperlichen" körperlich betreten und mit heiler Haut wieder verlassen zu können. Die "moving" Mumie. Oh Zeiten.

Ich habe die mathematische Grundlage der Cyberspaces erwähnt, in ihr findet heute eine lange Tradition "meßbarer" Welt zu einer mutmaßlichen geometrischen Vollkommenheit aus Licht und Linien. Die Geometrie hat ihren Anfang wohl in der Überlieferung, also Entstofflichung von Steinmetzanweisungen genommen, gewichtlos in der Imagination stattfindender Anfertigung ebenmäßiger Steinblöcke und Monolithen. Es scheint, als sei die Kulturentwicklung einem jahrtau~ sendealten Vorgefühl gefolgt, das durch die Zeiten hindurch auf die Schwerelosigkeit computergenerierter Szenarios gewartet hat.

Den Flächen und Kanten der Steinmetze an Bedeutung benachbart, mußte auch die Erdschwere des Eigentums nach den jährlichen Überflutungen an den Ufern der alten Kulturströme immer neu ins zugedachte Maß gebracht werden. So begründeten die alten Landvermesser die Orientierung und das Koordinatensystem, in dem die sogenannte 'zivilisierte' Menschheit lebt; ein Raum, dessen 'Metrisierung' und objektive Bestimmung weitgehend durch die Geometrie festgelegt ist. Das räumliche Bezugssystem des gegenwärtigen Globus ist erst durch metrische und topologische Bestimmungen einer weiterentwickelten Geometrie möglich geworden, einer Geometrie, die die durchtechnisierte Welt nicht nur "modelliert", sondern sie auch konstituiert.

Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der eine rechnerisch automatisierte euklidische Geometrie dem zugrundegelegt wird, was nun Virtuelle Realität oder Cyberspace heißt, stellt sich die Frage, ob ein rein abstraktes Zeichensystem, nämlich das der Mathematik, die Struktur des Raumes tatsächlich abbilden kann."Die Linie ergibt eine Richtung, zwei Erstreckungen führen zu einer Fläche, drei zu einem Körper", so lautete die feste Überzeugung des Aristoteles, und "neben diesen drei Erstreckungen gibt es keine andere Größe, weil die Drei Alles ist und das Dreifache 'Überall' bedeutet".

Die Voraussetzung, daß die naive dreidimensionale Geometrie mit der Struktur des Raums übereinstimmt oder sie sogar festlegt, wie beispielsweise noch Immanuel Kant behauptete, mußte aufgegeben werden, sobald man erkannt hatte, daß nicht-euklidische Geometrien für den Raum ebenso grundlegend sein können wie die euklidische. Der Begriff des beliebigdimensionalen Raums n wurde zuerst von dem französischen Mathematiker Joseph Louis Lagrange (1736-1813) gebraucht. Bereits Carl Friedrich Gauß (1777_1855) hielt eine Geometrie von mehr als drei Dimensionen für möglich. Alle noch so scharfsinnigen Versuche, den Raum aus einer auch die Geometrie in sich fassenden 'transzendentalen Vernunft' oder einer 'Welt der Kategorien' herzuleiten, erwiesen sich in der Folge als unfruchtbar. Der Raum, so offen er schien, wahrte doch sein Geheimnis.

1636 hatte Pierre de Fermat in seiner Abhandlung "Einführung in die ebenen und körperlichen geometrischen Örter" die Grundlagen der analytischen Geometrie umrissen; 1637 veröffentlichte Rene Descartes den berühmten "Diskurs über die Methode". Mit der analytischen Geometrie begann in der Geistesgeschichte des Abendlandes die Entfremdung von der Anschauung in der Geometrie und ebenso in der Erfassung des Raumes; andererseits begann eine längerdauernde Verwechslung von Realität mit Materialität. Etwa 350 Jahre später soll nun das nach wie vor ungeklärte Phänomen Raum, vielmehr eine technisch vermittelte diesbezügliche Sinnestäuschung, zur Klärung sämtlicher Unanschaulichkeiten beitragen, die sich inzwischen im gesamten Menschheitswissen, welches sich auf den Wege der Digitalisierung und Umwandlung in "Information" befindet, angesammelt haben.

In einer umfangreichen Untersuchung über den Raum und seine Ideengeschichte bemerkte Alexander Gosztonyi, daß der Gedanke, der Welt läge eine mathematische Struktur zugrunde und es seien also auch die formalen Gesetze des Raums geometrisch faßbar, nur im beschränkten Sinn richtig ist, "denn er gilt nur für eine Schicht oder eine "Dimension" der Gegenstandswelt. ... Dort, wo der Mensch als Mensch in die für ihn, für seine Erkenntnis gültige 'Strukturierung' des Raumes nicht nur als rationales Wesen, sondern auch als psychisch bedingtes LEBEwesen eingreift, wo er im Lebendigen oder aber in seiner 'Innenwelt' - in seiner Phantasie oder Vision - einer Formenwelt begegnet, und dort, wo physikalisch zwar eruierbare, aber in ihrem Wesen nicht erklärbare Wirkungen sich im physikalischen Raum bemerkbar machen, reichen die formalen - mathematisch-geometrischen - Zusammenhänge nicht mehr aus, dort weist die Raumstruktur qualitative Züge auf, dort ist der Raum als Qualität in Erscheinung getreten."

Man kann auch sagen, daß bei den Entwürfen virtueller Realität zumindest eine Art Anspruch oder Zukunftsmächtigkeit sichergestellt werden muß, die verhindert, daß mögliche interessante Entwicklungen aufgrund kurzsichtiger Grundlagenplanung in einer primitiv dreidimensionalen Sackgasse enden. Der "first thrill" eines künstlich erzeugten dynamischen Tiefenraums sollte den Blick auf fernerliegende Möglichkeiten oder weiter gefaßte Vorstellungen eines Cyberspace nicht einengen. So wie sich die Folgen algorithmischer Operationen etwa in einem sogenannten Textverarbeitungsprogramm substantiell auf damit abgefaßte Texte auswirken können, kann unbedacht geometrisierter Raum unabsehbar deformierende Folgen für potentielle Anwender nach sich ziehen.

"Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen", sagte Albert Einstein 1921 in einem Vortrag über 'Geometrie und Erfahrung', "sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."

Kulturhistorisch betrachtet stellt Cyberspace den Versuch dar, nicht mehr die Dinge im Raum zeichenhaft zu gestalten - skulptural, bildlich, schriftlich -, sondern den Raum selbst plastisch zu bearbeiten. Während die starre geometrische Grundstruktur auf das kristalline vorzeitliche Material Stein zurückweist und gewissermaßen instant die abendländische Geistesgeschichte bis hin zur Erkaltung des Raums als "erstarrte Zeit" (Spengler) enthält, ist die potentielle Formbarkeit des Raums, sein Primat, eine klassische asiatische Idee. Das Wesentliche der japanischen Kunst ist die Leere, jeder Strich, jeder Formzug ein Nachgeordnetes, aus der Leere geschöpftes, Bescheidenes. Jaron Lanier, ob aus Absicht oder Ahnung, spricht von einem "buddhistischen Effekt" von Cyberspace.

Im alten Ägypten lagen schriftlicher und bildlicher Raumausdruck noch nahe beieinander, wie anläßlich der hieroglyphischen Fluchtbewegungen aus dem linearen Dilemma bereits angedeutet. Die Perspektive, durch die Personen auf einem Bild unterschiedlich groß dargestellt wurden, diente der wirklichkeitsgetreuen Darstellung eines sozialen, nicht eines visuellen Raums, das heißt, je größer eine Person abgebildet wurde, je raumgreifender, desto bedeutsamer war ihr sozialer Status.

Im übrigen besaß man damals in der flächigen Darstellung bereits Möglichkeiten "kubistischer" Rundumsicht, die im historischen Fortlauf für einige Jahrtausende gewissermaßen plattgemacht wurden und nun in zeitgenössischen technischen Projektionsformen wie der Holografie oder eben dem Cyberspacialen wieder aufleben. Daß uns altägyptische Menschendarstellungen auf Reliefs oder Zeichnungen heute so verdreht vorkommen, hat damit zu tun, daß die Alten eine Gleichzeitigkeit von Wesensmerkmalen darstellten, die den Dargestellten umfassend charakterisieren sollte - das Gesicht, im Profil gezeigt, drückt den Persönlichkeitstonus aus; der Oberkörper, frontal gezeigt, stellt Haltung und Körperkraft dar; die Beine, zur Seite gewandt, lassen im Betrachter als Richtungseindruck ein Vorbeigehen erscheinen, eine tiefe Freundlichkeit, der möglichen aggressiven Gefahr eines geradewegs Zutretens auf den Betrachter entgegen.

Der abendländische Raum hat eine Abwertung erfahren vor allem mit der Einführung des cartesischen Koordinatennetzes und der perspektivischen Fluchtlinien in der Malerei der Renaissance, beides Raum-Fallen raffinierter Art. Der Raum - eine Erstarrung des Werdens - galt der in neuem Geist wissenschaftlichen Welt als Ablenkung vom Wesentlichen, als ein Hindernis für inhaltsvolles Denken. Raum ist seither das Uneigentliche, ein Randphänomen menschlicher Existenz.

Raum ist in unserer westlichen Auffassung erst Raum, wenn er etwas enthält; materiell, stofflich wird. Diese Raumauffassung hat dazu geführt, da wir unsere unmittelbare metropole oder sonst landschaftliche Umgebung immer mehr vollräumen, gliedern, zubauen; dieses Raum-Ausfüllen, Bebauen und immer weitere Einziehen von Strukturen - Straßen, Siedlungen, Kondensstreifen von Verkehrsmaschinen - überhaupt erst als Fortschritt empfinden, und sogar auf die Befrachtung von Wasser und Luft mit allen möglichen giftigen Substanzen insgeheim stolz sind; und uns persönlich die Luft materialisieren und visualisieren durch Zigarettenrauch und damit den stofflich unfaßbaren Raum einverleiben, damit eine Metapher für unsere Art zu denken verkörpern ("mir raucht der Kopf") und damit insgesamt zu einem biologischen Bild des technischen Fortschritts werden, indem wir für alles im Land stehen, das raucht, Fabriken, Kraftwerke, Lastwagen usf. Ökologisch gesehen ist Cyberspace eine saubere Sache.

8. DER RAUM, DER UNS VERSTEHT

"Im Raketenzeitalter spielt der Raum keine Rolle mehr. Selbst der Terraingewinn von 1940 durch die Annexion der baltischen Staaten hat den deutschen Vormarsch allenfalls zwei Wochen aufgehalten ..."

Mavriks Vulfson, lettischer Politologe und Volksdeputierter

Ursprünglich sollte dieser Aufsatz mit der kleinen Geschichte des Raums seinen Abschluß finden. Aber so geht es einfach nicht.

In einem Interview zeigte sich William Gibson vor kurzem erstaunlich illusionslos. "Wenn man sich Cyberspace erst einmal in entwickeltem Zustand vorgestellt hat, ist der jetzige Status banal. Außer für Querschnittgelähmte sehe ich nicht, wie virtuelle Realität jemandem nützen soll. Es wird den Regenwald nicht retten ... Künstliche Realität wird vielleicht ein Spielzeug für die reichen Länder werden, und für das Militär."

Heute ist Montag, der vierte Februar 1991. Heute sind es mehr als vierzigtausend Bombenangriffe alliierter Verbände auf Ziele im Irak; mit jeder Cruise Missile und jeder lasergesteuerten Lenkbombe fliegt ein Bordrechner in die Luft, der ein größeres Rechenzentrum locker an die Wand rechnet (so denken Computerfreaks). Gestern die Bilder brennender Ölquellen im Gelb der Wüste und rauchender Verheerungen in Kuwait City, gefilmt von Kosmonauten aus der Raumstation MIR; Augen der Welt. Vorgestern, LIVE, "cleared by US-military", ein amerikanischer Soldat auf die Frage, wie er seinen ersten Kampfeinsatz bei der Befreiung des von irakischen Truppen genommenen saudischen Chafdji erlebt habe: "It's just like waking up to reality".

Computer sind für das Militär erdacht und entwickelt worden. Der Geist des Militärs steckt in jedem Mikrochip, in der Ökonomie der Leiterbahnen, in den Imperativen der Anweisungsfolgen, mit denen jeder Algorithmus, jedes Anwendungsprogramm formuliert wird. Das eigentlich Gefährliche daran ist eine Kultur der Gewissenlosigkeit, die mit dem Computer einhergeht. Nichts, so scheint es, kann im digitalen Medium mehr wirklich zerstört, beschädigt oder auf moralisch bedenkliche Weise in Angriff genommen werden, da doch alles simuliert, substituiert, virtuell ist beziehungsweise eben nicht ist.

Es ist etwas wie eine Invertierung der Paradiesvorstellung: Cyberspace als ein Raum, in dem das Recht des Rechenstärkeren gilt; in dem Entscheidungen schneller getroffen werden, als sich irgend eine Form von Skrupel regen könnte; in dem überhaupt Scheindinge auf Scheindinge treffen und, sofern sich doch Auswirkungen auf eine außerhalb des Arbeitsspeichers gelegene stoffliche Realität ergeben sollten, alle mit dem Finger auf eine Maschine zeigen und sagen: Die war's.

Dazu gehört auch, daß High Tech in den Augen Mancher ein uneingeschränktes, absolutistisches Recht auf Entwicklung hat. Was demzufolge die Hacker zu mehr als einer anekdotischen Angelegenheit macht, sind ihre Konzepte einer Hacker-Ethik und eines Menschenrechts auf Information; ein erster bemerkenswerter Versuch, außer Hardware und Software auch moralische Innovationen hervorzubringen. Teil der Ethik ist auch das von Joseph Weizenbaum formulierte "digitale Platzverbot", demzufolge Computer in bestimmten Bereichen menschlichen Daseins nichts verloren haben. Gosztonyi drückt es mathematischer aus: "Es sei hier noch vermerkt, daß die psychische Raumsphäre sich naturgemäß jeder Geometrisierung entzieht. Es gibt für sie auch keinen Anknüpfungspunkt, von wo aus man eine Formalisierung vornehmen könnte und es besteht dafür auch nicht die geringste Notwendigkeit."

Wir leben in einer Zeit, in der sich die fatale Ergebnisse menschlichen Handelns mit technischer Hilfe zu potenzieren beginnen, vermittelt und unvermittelt, und auf den ganzen Globus auswirken. Vielleicht ist Cyberspace angebracht als Feld von Testrealitäten oder Probewelten, die die unaustauschbar eine organische Umwelt, die wir haben, für's erste vor allzuviel menschlichem Erprobungsdrang verschont; Cyberspace als eine Art von universellem Sandsack.

"Die Bewegung des Raumes hat ... ihren Grund in der Bewegung des Geistes", so der Denker Hans Voss, und wir ahnen etwas von der süßen Untätigkeit, mit der unsere Nachfahren durch einen Cyberspace schweben könnten wie gigantisches Plankton; von einem Raum umgeben, der sie versteht, ohne daß auch nur eine Geste nötig wäre, und dem schon genügt, daß ein allerleisestes Bedürfen sich regt - vollendete Dienstleistung, Die Schnittstelle schlechthin -; einem Raum, der schließlich als großartige mentale Erbsensuppe um planetenhaft regungslose Ich's kreist, die davon essen, bis sie wissen und wissen und nichts als wissen.

(c)Peter Glaser

geschrieben für: Waffender, "Cyberspace"; rowohlt computer, 1991

Quellen (Auswahl):

"2600. The Hackers Quarterly", Jg. 1988-1991, New York "Die Datenschleuder. Fachblatt für Datenreisende", Jg. 1986-1990, Hamburg "Labor. Zeitschrift für World Processing", Jg. 1988-1990, Hamburg

"Cyberspace rules K.O.", Titanic 11/90, Frankfurt Bernd VON DEN BRINCKEN, "Cyberspace Workshop 19.-21.10.1990 - Dokumentation", Köln John DRAKE, "Twenty Seconds into the Future. A Trip Through the Fact and Fiction of Cyberpunk", Amiga Format ?/89, London FARIN, "Sex & Drugs & Cyberpunk", Blickpunkt 12/89, Berlin Thomas HAMBERGER, "Schein und Sein. Virtuelle Welten auf der 'Ars Electronica'", c't Zeitschrift für Computertechnik 1/91, Hannover Benjamin HEIDERSBERGER, "Cyberspace", MacUp 3/90, Hamburg Tom MADDOX, "Der Roboter und die Frau, die er liebt", Übers. Michael Nagula, Blickpunkt 12/89, Berlin Klaus MAECK, Rudolf STOERT, "Knowfuture", Flugblatt "Freibank", Hamburg 1990 Tom WILLIAMS, "3D-Modeling Screams for Super Performance in Graphic Workstations", Computer Design, 8/87, Los Angeles

Alexander Gosztonyi, "Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften", Bände I und II, Freiburg/München 1976

 

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