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DAS ELEKTRONISCHE PAPIER

Ein Text am Computerbildschirm ist in jedem Augenblick im Zustand der Reinschrift. Das ameisenhaft Rege am Denken, das sich an den Bearbeitungsspuren herkömmlich abgefaßter Manuskripte ersichtlich macht, verschwindet. Denjenigen, die darin kein Manko, sondern ein qualitatives Merkmal des Schaffensprozesses sehen, wird es mithin unmöglich gemacht. Man *kann*, auch wenn man es möchte, auf dem elektronischen Papier nicht mehr herumschmieren und die, wie der eigentliche Text, zum Teil hochindividuellen Krakelkartierungen der Inspirationsverläufe erstellen.

Der elektronische Text liegt wie spaltbares Material hinter einer Trennscheibe (Screen) im kathodischen Vakuum der Bildröhre, als eine Flüchtigkeit. Technisch gesehen schreibt der Computerbenutzer, indem er via Tastatur einen Elektronenstrahl lenkt. Als Schriftsteller sage ich: Meine Tinte ist das Licht.

Der Autor, seit jeher tätig hart am Rand des Stofflichen, rückt mit den elektronischen Aufschreibesystemen seiner Bestimmung ein Stück näher. Der körperlosen Qualität von Sprache ist der "Lichtsatz" auf einem Bildschirm näher als kalligraphische Folgen von Tintenstrichen oder die Farbbandabdrücke von Schreibmaschinentypen, dies meine persönliche Auffassung.

Natürlich folgt der Schreibarbeit am Bildschirm nach wie vor der Schwarz- auf-Weiß-Ausdruck des Manuskripts, bloß daß das, was bei der Hand- oder Maschinenschrift zeitgleich erfolgte, nun durch den Computer explizit in einen Schreib- und einen Druckvorgang aufgetrennt wird (segensreich u.a. auch für schreibende Wohngemeinschaftsmitglieder und nachtarbeitende Autoren mit hellhörigen Nachbarn). Das Gedachte materialisiert zweistufig, wobei am Bildschirm nunmehr auch die Vorläufigkeiten untergebracht werden, die vordem Papierservietten oder bildlosen Vorformulierungsgängen im Kopf vorbehalten waren, und zwar aufgewertet zu regulärem Text. Der gestiegene Korrekturkomfort des elektronischen Aufschreibesystems, verbunden mit dem Augenschein einer immer cleanen Ideenausformung, verleiten zu vorschneller Fertigung.

Übrigens halte ich den Slogan vom Computer als der besseren Schreibmaschine für korrekturbedürftig. In Wirklichkeit ist er der kompliziertere Radiergummi. Auch dies nicht uneingeschränkt.

Architekten klagen über die Hinterglas-Reinheit des elektronischen Transparentpapiers, die oft dazu führt, daß an falscher Stelle in einen Plan gezeichnete (also im unerwünschten Sinn "computergestützte") Teile nur noch schwer zu entdecken ist. Die Planpausen sehen aus wie von Meisterhand gefertigt; die Illusion blendet den kritischen Blick. Autoren, bei denen unsinnige alias kreative Teile gewissermassen zur Pflicht gehören, haben mit untergründigeren Unzulänglichkeiten des elektronischen Equipments zu kämpfen.

Gefahr droht unter anderem durch eine falsche Wichtigkeit, die der Computer als bibliothekarisches und Aufschreibesystem in der Lage ist zu erzeugen. Wo Sprache auf elektrischem respektive elektronischem Weg gespeichert und transportiert wird, scheint eine Zunahme an Wert stattzufinden, indem sich ein magischer Schatten der technischen Umgebung auf den Inhalt wirft.

Wer in einer Schlange vor einem Schalter steht, kann sich jederzeit davon überzeugen, daß der Beamte dahinter, sofern es klingelt, sofort das Telefon abnehmen wird, wie lange auch immer die Schlange sein mag. Die auf technischem Weg herangeschaffte Anfrage ist durch den kategorischen Konjunktiv ausgezeichnet ("könnte wichtig sein").

Findet der Sprachumsatz auf digitaler Basis statt - Computer kommen ins Spiel -, wird alles Geschriebene in einem zauberischen Akt zu "Kommunikation", eine Bezeichnung, die noch dem einfallslosesten Gewäsch eine Aura von Sinnfälligkeit verleiht. Der Mythos "Kommunikation" kann unvorsichtigen Autoren gefährlich werden.

Der Computer als Schreibgerät stellt hohe Anforderungen an den Formwillen, gerade *weil* er das Schreiben vermeintlich erleichtert. In seiner Funktionsvielheit hält er straußweise Ablenkungen bereit. Ich kenne jemanden, der sich beim Abfassen eines Manuskripts an einer Unzulänglichkeit seines Textverarbeitungsprogramms störte, sich, um sie zu beheben, das Programmieren beibrachte, heute als Programmierer lebt und sich neulich in einer Unterhaltung daran zu erinnern versuchte, worüber er damals eigentlich etwas schreiben wollte (er konnte sich nicht mehr erinnern).

Manche Schreibprogramme (wie "Textverarbeitungssysteme" einfach heißen sollten) versuchen sich bereits als Grundlagen neuer, innovativer Schaffenskonzepte - "Ideenverarbeitung" - anzudienen, während noch nicht einmal teure sogenannte Standardsysteme die syntaktische Einheit "Satz" kennen (nur "Wort" oder "Zeile").

Das elektronische Papier hat noch lange nicht die materialen Qualitäten papierener Träger erreicht. Bildschirme, welche die typographische Qualität und das Format der Doppelseite eines gebundenen Buchs wiedergeben, kosten - dran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern - mehrere tausend Mark und haben die Ausmasse eines offenen Kamins.

Auch von Übersichtlichkeit, wie sie analoge Manuskriptblätter bieten, kann bei den gängigen 24-zeiligen PC-Bildschirmen nicht die Rede sein. Der Versuch, längere Texte am Bildschirm zu lesen, gleicht dem Versuch, eine Zeitung durch ein Fenster in einer Pappschablone zu rezipieren, das eine Spalte breit und vierundzwanzig Zeilen lang ist. Das eingeschränkte "elektronische Blatt" fördert eine Neigung zu kurzatmigen oder inkonsistenten Texten.

Zu der Frage, ob neue Aufschreibesysteme die Entstehung neuer Arten von Literatur begünstigen: nach meiner Erfahrung hat es keine maßgebliche Bedeutung, auf welchen Träger hin die literarische Ausdrucksbewegung stattfindet, ob auf einen manuellen, einen mechanischen oder einen magnetischen.

Sicher hat etwa die Individualisierung des Bleisatzes in Form der Schreibmaschine zu Experimenten wie der visuellen oder der konkreten Poesie der 50er und 60er Jahre eingeladen. Möglicherweise hat auch das durch die Schreibmaschine fertigbare geometrische Textparkett die Annäherung von Mathematik und Sprache angekündigt, die heute mit der gleichförmig binären Codierung von Buchstaben und Zahlen im Computer vollzogen ist. Im übrigen sind elektronische Textsysteme durch ihre Klobigkeit einerseits und barocke Funktionsüberfülle andererseits eher geeignet, Literatur zu verhindern - sofern man nicht zu den Autoren gehört, die, wie ich, jede "Störung" als Aufforderung zu forcierter Konzentration ansehen.

Die Schreibmaschine erleichtert auch das Einhalten vorgegebener Textformate, wie sie vor allem im journalistischen Bereich gängig sind. Daß solche quantifizierten Formen auch zurückwirken können, belegt beispielsweise Walter Benjamin, der von einer verhängnisvollen Routine im Abfassen von Zweispaltern zum Broterwerb berichtet, welche nach einer Weile dazu führte, daß ihm Ideen, die nicht in zwei Spalten unterzubringen waren, erst gar nicht mehr kamen (selektive Inspiration).

Die Tatsache, daß Literatur und Autorschaft mit Ausdrucksvermögen, Empfindungspräzision, einem beständig und bewußt durchquerten Wortschatz und den organischen Strukturen persönlicher und gesellschaftlicher Gegebenheiten zu tun hat, und nicht mit dem Gleitkoeffizienten von Tinte oder der Verschiebbarkeit von Textfenstern, scheint hinter dem jugendlichen Glanz einer in jeder Hinsicht adoleszenten Technologie zu verblassen.

Unsere herkömmliche Auffassung von Literatur, die mit linearem Textverlauf, mit Papier und mit Büchern zu tun hat, wird das elektronische Medium nicht weiter beeinträchtigen; auch das vormalige Mega-Medium Fernsehen hat daran nichts geändert. Die technischen Medien treten nicht an, die Buchkultur zu vernichten; diese Art von Kulturpessimismus war seit jeher vermessen, denn der papiergetragene Text, ob als Manuskript, Buch oder Zeitschrift, ist nach etwa 5000 Jahren Entwicklungszeit als Informationsträger an Ökonomie, Wirksamkeit und funktionaler Schönheit nicht zu überbieten.

Zu den fundamentalen Eigenschaften papiergetragener Literatur gehören das monologische Entstehen (der Autor und sein weißes Blatt) und der lineare Zeilenfaden, dem Schreiber wie Leser zu folgen haben. Originär neu am elektronischen Papier sind verzweigte oder dialogische Möglichkeiten.

Eine Variante ist das Konzept der Abenteuerspiele (Adventures), die literarische Plots bieten, etwa Detektiv- oder Phantasy-Geschichten. Der vormals Leser wird als Protagonist bzw. Mitspieler in der Handlungsfortlauf aufgenommen und hat die Möglichkeit, sich auf verschiedene Weisen durch ein vernetztes System von Situationen zu bewegen, die die Story repräsentieren, zu agieren, oder in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Die ungemeine "Blätterbarkeit" der einen, alle jemals verfügbaren Seiten repräsentierenden Bildschirmseite ermöglicht es, Sprachstrukturen bereitzustellen, in denen man sich entlang gewisser Freiheitsgrade und in bestimmte "Richtungen" eines Textes bewegen kann. Es sind begehbare Fiktionen; Texte, mit denen man sprechen kann.

Wie bei einer auf Papier geschriebenen Kriminalgeschichte ist auch bei einem beispielsweise Detektiv-Adventure das Ziel die Lösung eines Falls, allerdings liegt ein zusätzlicher Reiz in der Möglichkeit, sich auf eigenen Routen durch das Szenario zu treiben. Waren die Adventures in der ersten Zeit ausschließlich textgeführt, kommen seither immer mehr Bild- und Tonelemente dazu, die aber, im Unterschied zu Videospielen, auf motorische Oszillationen und Reaktionszwänge verzichten und kontemplatives, also literarisches Vorgehen fördern.

Eine andere Variante sind *Chats* (terminus technicus: Telekonferenzen), in denen Sprechen und Schreiben ineins gehen. Voraussetzungen für einen Chat ist ein mit mehreren Telefonanschlüssen versehenes Computersystem und ein "Konferenzprogramm", das die Verbindungen zu anrufenden Computern respektive ihren Benutzern hält und die Eingaben eines jeden Teilnehmers an die jeweils anderen weiterleitet. Jeder sieht (beinahe) augenblicklich auf seinem Bildschirm das, was er und die anderen Teilnehmer schreiben, also sagen. Was mich als Schriftsteller an dieser Form besonders fasziniert, ist die einzigartige Verbindung von Sprechen und Schreiben, monologischer und dialogischer Sprachfigur. Chats verbinden den Bedacht des Briefeschreibens und die Dynamik des Telefonierens.

Die Bereitstellung einer entsprechenden Anlage ist teuer und die Handhabung noch umständlich, weshalb diese Form elektronischer "Sprachräume" hierzulande kaum zu finden ist. Und eine technische Infrastruktur allein ist noch keine Garantie dafür, daß sich auch literarisch geneigte Teilnehmer an den Chats beteiligen und bewußt mit Sprache experimentiert und gespielt wird.

Beispiele für verschenkte technische Möglichkeiten sind CB-Funk (Anlage läuft, aber keiner weiß, was er sagen soll) und die ohne Ambitionen betriebenen Bereiche des BTX-Systems der deutschen Bundespost, die wohl mal als Chats gedacht waren, inzwischen aber zu ungepflegten "Sexecken" (nicht zu verwechseln mit freimütigem Ausdruck) verkommen sind.

Man muß aufmerksam suchen, um auf dem elektronischen Papier Sprachdinge im Schwange ausfindig zu machen, die etwas Neues verheissen. An manchen Stellen, zwei habe ich angedeutet, finden Entwicklungen statt, die ich für interessant genug halte, um sie weiter zu verfolgen respektive mitzumischen.

Ansätze zu nichtlinearen, strukturalen Sprachformen, wie sie sich im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Computerarchitekturen ("Parallelverarbeitung") zu ergeben scheinen, konnte ich nicht ausführen, da das den Rahmen diese Beitrags gesprengt hätten. Den Betrachtungen zu Programmierern als Autoren und Programmiersprachen als technoide Formen quasi lyrischer Spezialsprachen ist es ebenso ergangen. Es ist noch Zeit genug. Und Papier ist geduldig.

geschrieben für Agenda / Grimme-Institut, 1991 (c) Peter Glaser

 

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