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Anlagen zum Jahresbericht 1996
Vf. 44-11-94
DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF DES FREISTAATES SACHSEN
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
In dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle
auf Antrag des Abgeordneten Peter Adler und 40 weiterer Mitglieder
des 1. Sächsischen Landtages
zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Sächsischen Polizeigesetzes
hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen durch ...
auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 1995
für Recht erkannt:
Leitsätze
1. Bei der Auslegung der sächsischen Verfassung sind Inhalt
und Entwicklungsstand der EMRK zu berücksichtigen, sofern
damit keine Einschränkung oder Minderung des sächsischen
Grundrechtsschutzes verbunden ist. Die Grundrechte der sächsischen
Verfassung sind im Lichte der EMRK auszulegen.
2. Gegen die Regelung des Polizeigewahrsams gemäß §
22 Abs. 1 des Sächsischen Polizeigesetzes ergeben sich unter
Berücksichtigung des Artikel 5 Abs. 1 lit. b und c EMRK keine
grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken.
3. § 22 Abs. 7 S. 3 SächsPolG ist, soweit er den Polizeigewahrsam
zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden erheblichen
Störung der öffentlichen Sicherheit oder zur Beseitigung
einer solchen Störung bis zur Höchstdauer von zwei Wochen
zuläßt, mit der Sächsischen Verfassung vereinbar,
verstößt jedoch gegen Art. 16 Abs. 1 S. 2 in Verb.
mit Art. 1 S. 2 SächsVerf, soweit er diese Höchstfrist
einheitlich auch für den Polizeigewahrsam zum Schutz einer
Person (§ 22 Abs. 1 Nr. 2), zur Feststellung der Identität
(§ 22 Abs. 1 Nr. 3) und zur Durchsetzung eines Platzverweises
(§ 22 Abs. 1 Nr. 4) bestimmt.
4. Die Regelung des § 39 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG über
die Datenerhebung mit besonderen Mitteln zur Abwehr einer gegenwärtigen
Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder
eines Landes oder für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer
Person oder für bedeutende fremde Sach- oder Vermögenswerte
ist mit der Sächsischen Verfassung vereinbar.
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5. § 39 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a SächsVerf, der die Datenerhebung
mit besonderen Mitteln im Rahmen von Vorfeldermittlungen wegen
Straftaten von erheblicher Bedeutung regelt, ist mit der Sächsische
Verfassung zwar grundsätzlich vereinbar, nicht jedoch insoweit,
als er diese Maßnahme zuläßt
- zur Verhinderung und vorbeugenden Bekämpfung von Vergehen,
die sich nur gegen bedeutende fremde Sach- und Vermögenswerte
richten, aber nicht gewerbs- gewohnheits-, serien- bandenmäßig
oder sonst organisiert begangen werden;
- aus Vertrauensverhältnissen, die durch Amts- und Berufsgeheimnisse
geschützt sind, ohne daß das Gesetz selbst bestimmt,
zu Gunsten welcher Rechtsgüter, in welchen Vertrauensverhältnissen
sowie unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen aus
solchen Vertrauensverhältnissen mit besonderen Mitteln im
Vorfeld konkreter Gefahren Daten erhoben werden dürfen.
6. Die Regelung des § 39 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b SächsPolG
über den Einsatz besonderer Mittel zur Datenerhebung über
Personen, bei denen die Gesamtwürdigung der Person und der
von ihr bisher begangenen Straftaten erwarten läßt,
daß sie auch künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung
begehen werden, verstößt gegen die mit dem Recht auf
informationelle Selbstbestimmung (Art. 33 SächsVerf) gewährleisteten
Grundsätze der Normenklarheit und Normenbestimmtheit.
7. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 33
SächsVerf) gebietet, die in § 39 Abs. 1 Nr. 3 SächsPolG
vorgesehene Erhebung von personenbezogenen Daten über Kontakt-
und Begleitpersonen im Rahmen von Vorfeldermittlungen zu beschränken
- auf Personen mit näheren persönlichen oder geschäftlichen
Beziehungen zur Zielperson oder auf Verbindungen, die über
einen längeren Zeitraum unterhalten oder unter konspirativen
Umständen hergestellt oder gepflegt werden
- und auf Art, Gegenstand, Zweck und Ausmaß der Verbindung
im Hinblick auf die angenommenen Straftaten.
8. Die Regelung des § 40 Abs. 1 Nr. 1 SächsPolG über
die Erhebung personenbezogener Daten durch den Einsatz besonderer
Mittel in oder aus Wohnungen ("Großer Lauschangriff")
ist zur Abwehr gegenwärtiger Gefahren für die in der
Vorschrift genannten Rechtsgüter mit der sächsischen
Verfassung nicht vereinbar, soweit sie den Einsatz besonderer
Mittel ohne Einschränkung auf die Fälle des polizeilichen
Notstands (§ 7 SächsPolG) auch in Wohnungen von Personen
zuläßt, die für die abzuwehrende Gefahr nicht
verantwortlich sind.
9. Die in § 40 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG getroffene Regelung
über den sog. großen Lauschangriff zur vorbeugenden
Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung im Rahmen
von Vorfeldermittlungen verstößt gegen das Grundrecht
auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 30 SächsVerf).
10. Der polizeiliche Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel unterliegt,
wenn er nicht der richterlichen Kontrolle unterlegen hat, nach
Art. 83 Abs. 3 S. 2 SächsVerf der parlamentarischen Nachprüfung.
Nachrichtendienstliche Mittel der Polizei im Sinne dieser Vorschrift
sind der verdeckte Einsatz technischer Überwachungs- und
Aufzeichnungsmittel und der Einsatz verdeckter Ermittler (§
36 Abs. 2 Nr. 2 und 3 SächsPolG).
11. Soweit die Polizei mit verdecktem Einsatz besonderer Mittel,
insbesondere in oder aus Wohnungen, Daten erhebt und damit heimlich
in die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung (Art.
33 SächsVerf) und auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art.
30 SächsVerf) eingreift, reicht der herkömmliche Grundrechtsschutz
nicht aus. Daher bedarf es insoweit einer besonderen Ausgestaltung
des Grundrechtsschutzes durch Verfahrensregeln, die den individualrechtlichen
wie den strukturellen Schutzbedürfnissen gerecht werden müssen.
12. Datenerhebung aus verfassungsrechtlich geschützten mit
Amts- und Berufsgeheimnissen abgesicherten Vertrauensverhältnissen
unter verdecktem Einsatz besonderer Mittel ist nur zum Schutze
wichtiger Gemeinschaftsgüter, wie etwa des Lebens, der Gesundheit
und der Freiheit mit der Sächsische Verfassung vereinbar.
Eingriffe in solche Vertrauensverhältnisse im Rahmen von
Vorfeldermittlungen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten
können nur gerechtfertigt sein, wenn sie das einzige Mittel
zur Informationsgewinnung darstellen, diese dem Schutz hochrangiger
Rechtsgüter dient und weiteres Zuwarten die Gefahr einer
irreversiblen Schädigung dieser Rechtsgüter begründet.
Hierzu bedarf es einer ausdrücklichen, hinreichend bestimmten
gesetzlichen Ermächtigung.
(Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, Urteil vom 14.
Mai 1996, - Vf. 44-11-94 - )
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