Anlagen zum Jahresbericht 1996
Zur Verfassungsmäßigkeit einer Repräsentativstatistik
(Mikrozensus) (Auszug)
Beschluß des Ersten Senats vom 16. Juli 1969 - 1 BvL 19/63
-
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des
§ 2 Nr. 3 des Gesetzes über die Durchführung einer
Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens
(Mikrozensus) vom 16. März 1957 - BGBl. I S. 213 - in der
Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 1960 - BGBl. I S. 873 - Aussetzung
und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck
vom 30. Oktober 1963 - Gs 168/63
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
§ 1 und § 2 Nummer 3 des Gesetzes über die Durchführung
einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des
Erwerbslebens (Mikrozensus) vom 16. März 1957 (Bundesgesetzbl.
1 S. 213) in der Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 1960 (Bundesgesetzbl.
I S. 873) waren mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit bestimmt
wurde, daß für die in § 1 des Gesetzes angeordnete
Statistik auf repräsentativer Grundlage die Tatbestände
Urlaubs- und Erholungsreisen erfaßt werden.
......
1. a) Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar
und muß von aller staatlichen Gewalt geachtet und geschützt
werden.
In der Wertordnung des Grundgesetzes ist die Menschenwürde
der oberste Wert (BVerfGE 6, 32 [41 ]). Wie alle Bestimmungen
des Grundgesetzes beherrscht dieses Bekenntnis zu der Würde
des Menschen auch den Art. 2 Abs. 1 GG. Der Staat darf durch keine
Maßnahme, auch nicht durch ein Gesetz, die Würde des
Menschen verletzen oder sonst über die in Art. 2 Abs. 1 GG
gezogenen Schranken hinaus die Freiheit der Person in ihrem Wesensgehalt
antasten. Damit gewährt das Grundgesetz dem einzelnen Bürger
einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der der
Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist (BVerfGE
6, 32 [41], 389 [433]).
b) Im Lichte dieses Menschenbildes kommt dem Menschen in der Gemeinschaft
ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu. Es widerspricht der
menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt
im Staat zu machen (vgl. BVerfGE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]). Mit
der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn
der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte,
den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit
zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität
einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu
behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich
ist.
Ein solches Eindringen in den Persönlichkeitsbereich durch
eine umfassende Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse
seiner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil dem
Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung
seiner Persönlichkeit willen ein "Innenraum" verbleiben
muß, in dem er "sich selbst besitzten" und "in
den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt
hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit
genießt" (Wintrich, Die Problematik der Grundrechte,
1957, S. 15 f.; vgl. auch Dürig in Maunz-Dürig, GG 2.
Aufl., Rdnr. 37 zu Art. 1). In diesen Bereich kann der Staat unter
Umständen bereits durch eine - wenn auch bewertungsneutrale
- Einsichtnahme eingreifen, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit
durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme zu hemmen
vermag.
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