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Süddeutsche Zeitung vom 15.1.1996
Das Internet - kein Sündenpfuhl
Die Aktion der bayerischen Justiz ist übertrieben aber
die Empörung der Netz-Freaks auch
Von Jeanne Rubner
War es Zufall, daß in Bayern mit der Ermittlung
gegen den Online-Dienst Compuserve die erste Offensive
startete? Im November in Magdeburg, bei der Konferenz der Justizminister,
äußerten vor allem die Bayern Unbehagen über das
Geschehen im weltweiten Internet. Man war sich schließlich
einig, daß etwas geschehen müsse. Der Anlaß kam
wenig später wie gerufen: Über den Netzzugang der in
Unterhaching bei München ansässigen Firma wurden Kinderpornos
ins Internet eingespeist. Die Münchner Staatsanwaltschaft
erschien mit einem Durchsuchungsbefehl und einer Liste mißliebiger
Diskussionsforen ("Newsgroups"). Compuserve sperrte
darauf zunächst einige für seine deutschen Kunden, später
fast 200 Newsgroups für alle Netzbenutzer.
Das Unternehmen sah sich nach eigenen Angaben dazu gezwungen.
Die Staatsanwaltschaft bestreitet, eine Anweisung zur Schließung
der Newsgroups gegeben zu haben. Wie auch immer: bei Compuserve
reagiert man zunehmend nervös. Eine Ende vergangener Woche
kurzfristig anberaumte Pressekonferenz wurde ebenso kurzfristig
wieder abgesagt. In zwei Wochen, so heißt es nun, werde
Compuserve "neue technische Möglichkeiten"
vorstellen - Software wahrscheinlich, die es erlauben könnte,
bestimmte Newsgroups nur regional zu sperren.
Vermutlich hätte es diesen Ärger nicht gegeben,
wäre Compuserve nicht auf die Idee gekommen, allen seinen
Kunden Restriktionen aufzuerlegen. Darauf reagieren nämlich
vor allem amerikanische Netz-"Surfer" empfindlich. In
den USA wird derzeit ein neues Telekommunikationsgesetz diskutiert,
das einen "Indecency Act" enthält. Nach dieser
Sittlichkeitsklausel soll unanständiges Material nicht mehr
in die Datennetze gelangen dürfen anderenfalls drohen den
Unternehmen, die Netzzugänge anbieten ("Provider"),
Geldstrafen. Gegen den Indecency Act laufen die Netz-Freaks nun
Sturm, angeführt von der Electronic Frontier Foundation.
Die Organisation kämpft gegen jede Art von Auswahl und Zensur
im Internet. Sie argwöhnt, daß der Staat nur darauf
wartet, das unorganisiert wachsende Netz mit mittlerweile geschätzten
30 Millionen Nutzern unter Kontrolle zu bringen. Die Kritik aus
Amerika ist deshalb harsch: Boykott deutscher Biere fordern Schwulengruppen,
der Bundesjustizminister soll gar elektronische Briefe mit "Heil
Hitler" bekommen haben.
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Beide Seiten Justiz auf der einen und die Lobby für ein
freies Netz auf der anderen machen zuviel Aufhebens um den bayerischen
Vorgang. Kinderpornographie ist strafbar und sollte auch im Internat
verboten sein. Doch weil jemand entsprechendes Material eingespeist
hat, und weil es Newsgroups gibt, die "sex" in ihrer
Adresse stehen haben (zum Beispiel, weil dort Opfer von Vergewaltigungen
Probleme erörtern), ist das weltweite Netz noch längst
nicht das, was es nun genannt wird: ein Sündenpfuhl. Wer
sich im Internet tummelt, wird nicht sogleich von einer pornographischen
Lawine überrollt. Vielmehr muß er ziemlich genau wissen,
wie er an die Newsgroups kommt. Das ist der Unterschied zu einem
anderen Bereich des Internets, des World Wide Web, in dem jeder
leicht "surfen" kann. Auch existiert Software, die pornographische
Inhalte herausfiltert, so daß Kinder damit nicht konfrontiert
werden. Ein Zeitungskiosk bietet jedenfalls auf einfache Weise
mehr nackte Haut als das Netz. Und wer sich Zugang zu den gesperrten
Newsgroups verschaffen will, sucht sich eben einen anderen Provider.
Ein Provider kann nicht für die gesamten Inhalte der Diskussionsforen
verantwortlich gemacht werden, ähnlich der Post, die auch
nicht für den Inhalt der Briefe verantwortlich ist, die sie
befördert.
Doch auch die Aufregung in der Szene ist übertrieben.
Längst ist das Internet nicht mehr der Inbegriff von Freiheit
und Zwanglosigkeit. Schon immer wurden die Inhalte der Newsgroups
von deren Verantwortlichen kontrolliert. Langfristig wird das
Internet vielleicht zu einem Einkaufsforum werden. Ohnehin sorgen
nun, zumindest hierzulande, die Telephontarife dafür, daß
sich Netzbenutzer genau überlegen, in welchen Newsgroups
sie sich "herumtreiben" wollen.
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