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FAZ, 28. Dezember 1995, Nr. 301 / Seite 23
Telefongewalt
Es bedarf oft eines sensationellen Anlasses, um eine Grundsatzdiskussion
über technische Neuerungen in Gang zu setzen. So geschah
es jetzt in Italien, wo ein Vergewaltigungsfall heftige öffentliche
Diskussionen über die Zulässigkeit der sogenannten "chat
lines" auslöste. Mit der Digitalisierung des
Telefons sind diese Linien ins Kraut geschossen auch da hat
Italien in Europa den Vorreiter gemacht. Mit Vorwahlen nach fernen
Bananenrepubliken oder Südseeinseln oder mit den Vorwahlen
144 und 166 bringen sie sowohl der Telecom wie den Privatanbietern
gewisser Dienste Einnahmen in der Größenordnung von
umgerechnet Hunderten Millionen Mark. Mit 144 beginnen Nummern,
die mit kompliziert verschachtelten Tonbandantworten und Weiterverbinden
Gesprächszeit schinden und alles mögliche an "Erotik"
bieten. Ein junger Genuese, der seinen Eltern Telefonrechnungen
von Zehntausenden Mark verursachte und aus dem Haus gewiesen wurde,
konnte vom Telefonsex auch danach nicht lassen: Er mietete sich
in Hotels ein, um nächtelang zu telefonieren und morgens
unter Hinterlassung mehrer tausend Mark Telefonschulden zu verschwinden.
Die Strafjustiz hat ihm jetzt ein telefonloses Zimmer zur Verfügung
gestellt. Einer Elfjährigen erging es schlimmer. Sie wählte
abenteuerlustig eine Nummer, die ihr die Fernsehwerbung zugänglich
gemacht hatte, gab zwar bei einem Telefonkontakt ein falsches
Alter und eine falsche Adresse an, doch ist es ein leichtes, über
eine Telefonnummer die wahre Adresse ausfindig zu machen: Der
neue Telefonfreund kam ins Haus und vergewaltigte sie. Dieser
fall wurde zum Auslöser der Grundsatzdebatte. Zwar hat die
Telecom zähneknirschend die Möglichkeit eingeräumt,
die gewinnbringenden Dienste zu sperren, aber die Verbraucherorganisationen,
rechten und linken Parteien, von der Lega Nord bis zur stalinistischen
Rifondazione comunista, genügte das nicht. Sie vermuteten,
die Mündigkeit des Staatsbürgers sei den abgefeimten
Strategien telematischen Unternehmertums vielleicht doch nicht
ganz gewachsen. Sie verlangten die Abschaffung fragwürdiger
Dienstleistungstelefonlinien (Lega) oder wenigstens die Umkehrung
des Entscheidungsprozesses: Wer eine Dienstleistung wünscht,
soll sie bestellen dürfen, während bisher gilt, daß
ungewünschte Angebote abgelehnt werden müssen; tut man
es nicht, hat man seine "stillschweigende Zustimmung"
erteilt. Nur ein Politiker donnerte, solche Beschränkungen
seien "erotische Prohibition". Sein Risiko, über
das Telefon gewalttätige Bekanntschaften zu machen, dürfte
freilich recht gering sein. Doch der zornigen Telefonbenutzer
waren überraschend viele. Die Regierung hat deshalb in aller
Eile ein Dekret verabschiedet, das der Telecom auferlegt, binnen
sechzig Tagen die 144Dienste nur auf Verlangen des Telefoninhabers
aufzuschalten; Fernsehwerbung für Zwielichtiges ist nun erst
von 23 Uhr an gestattet. Die Maßnahme ist zu begrüßen
so trostlos es andererseits ist, daß sie ohne den Vergewaltigungsfall
und ohne die Schlagzeilen, die er auslöste, vermutlich nie
zustande gekommen wäre. dp
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