Bei der Regelung des Informationsumgangs ist von den individuellen
Freiheitsrechten auszugehen; doch darf und muß der Gesetzgeber
selbstverständlich berücksichtigen, daß der Einzelne in
vielfältiger Weise auf den Schutz und die Hilfe des Staates angewiesen
ist und daß die Tätigkeit des Staates kontrollierbar sein muß.
In gesetzlich klar vorgegebenen Fällen ist daher die Verwendung
personenbezogener Daten auch ohne selbstbestimmte Mitwirkung des Betroffenen
erforderlich.
Das Grundrechtsverständnis mit der Selbstbestimmung des Bürgers
als Regelfall und ihre Einschränkung als Ausnahme ist allerdings keineswegs
von allen Seiten als Selbstverständlichkeit akzeptiert worden: Nach
10 Jahren ist eine positive, aber auch eine kritische Bilanz zu ziehen.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind, wenn auch in vielen
Fällen in langwierigen Verfahren, viele gesetzgeberische Aktivitäten
entfaltet worden. Dabei mußte mancher datenschutzrechtlicher Fortschritt
hart umkämpft werden.
Neben einer grundlegenden Novellierung der Datenschutzgesetze in Bund und
Ländern wurden Spezialbestimmungen in zahlreichen Sondermaterien geschaffen.
Auf der Ebene des Bundes zählen dazu:
- einzelne Bücher des Sozialgesetzbuches,
- das Personalaktenrecht für Beamte,
- das Straßenverkehrsrecht,
- die Gesetze über die Nachrichtendienste des Bundes,
- das Telekommunikationsrecht.
Besonderer Handlungsbedarf für die Verwirklichung der informationellen
Selbstbestimmung entstand durch die deutsche Einigung. Dabei stellt die
Aufarbeitung der Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
DDR auch für den Datenschutz eine besondere Herausforderung dar.
Noch weitergehend ist der Umfang der datenschutzrechtlichen Neuregelungen
in den Ländern, in denen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes
teilweise konsequenter umgesetzt wurden als im Bund.
Diese Verrechtlichungswelle hat auch Kritik hervorgerufen:
In Dutzenden von Gesetzen ist nunmehr das "Kleingedruckte" des Rechts auf
informationelle Selbstbestimmung bereichsspezifisch geregelt. Das so entstandene
Normengeflecht ist engmaschig und kompliziert. Dies steht der Intention des
Verfassungsgerichtes, der Bürger solle bereits aus normenklaren
Gründen erkennen können, mit welcher Verarbeitung seiner Daten
er zu rechnen hat, gelegentlich bereits entgegen. Eine weitergehende Kritik
stellt in Frage, ob diese Normenflut mit ihren perfektionistischen und
detaillistischen Regelungen der Verwirklichung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit dient und notwendig war. Geäußert
wurde auch die Annahme, daß die Effizienz der staatlichen Verwaltung
bei der Bewältigung ihrer Aufgaben unter der Last perfektionistischer
detaillistischer Regelungen gelitten habe und daß die Kreativität
der Gesellschaft und ihre Fähigkeit zur Anpassung und Bewältigung
der gegenwärtigen Herausforderungen durch enge, starre Gesetze behindert
würden.
Dem muß allerdings entgegen gehalten werden, daß die Fülle
und Kompliziertheit der Datenverarbeitung in den verschiedensten
Verwaltungsbereichen für die Regelungsdichte verantwortlich ist. Sie
ist eine Konsequenz des Umstands, daß in allen Verwaltungsbereichen
der - zunehmend automatisierten - Informationsverarbeitung immer mehr Bedeutung
zukommt: Eine notwendige Folge der Entwicklung hin zu "Informationsgesellschaft".
Ein weiterer Grund für die Komplexität der Gesetzgebung liegt darin,
daß die Gesetze häufig nicht darauf abzielen, die Rechtsposition
des Bürgers zu stärken, sondern vielmehr Verarbeitung personenbezogener
Daten zu ermöglichen, oft über das Maß hinaus, das bislang
zulässig war. Viele Vorschriften sind so derart allgemein und umfassend
zugunsten der Eingriffsseite formuliert, daß es schwerfällt, sie
als "Datenschutzgesetze" im eigentlichen Sinn zu verstehen. Wann immer
Verwaltungen sich durch den Datenschutz behindert glaubten, ertönte
der Ruf nach dem Gesetzgeber, der - zugunsten der Verwaltung - korrigierend
eingreifen soll.
Trotz alledem blieb der Datenschutz in wesentlichen Bereichen ungeregelt.
Auf Bundesebene gibt es z.B. bis heute keine hinreichenden datenschutzrechtlichen
Vorschriften auf den Gebieten des Arbeitnehmerdatenschutzes, der
Justizmitteilungen und der Zwangsvollstrekkung, des Abgabenrechts, des
Mieterschutzes, der Arbeit von Auskunfteien, Detekteien und privaten
Sicherheitsdiensten, der Bundespolizeibehörden, des
Ausländerzentralregisters oder - am gravierensten - des gesamten
Strafverfahrens.
Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder
appelliert an den Bundesgesetzgeber, diese Lücken umgehend und im Sinne
der informationellen Selbstbestimmung zu schließen.
Zur aktuellen Situation:
Die derzeitige Situation des Datenschutzes wird von den beiden großen
Themenbereichen geprägt, die die Innenpolitik beherrschen: Die innere
Sicherheit und der Zustand unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Diese
Felder ängstigen die Menschen und stärken die Kontrollbedürfnisse
des Staates. Auf beiden Gebieten wird die vermeintliche Lösung darin
gesucht, daß die gesetzlichen Möglichkeiten zur Verarbeitung
personenbezogener Daten erheblich ausgeweitet und auf der anderen Seite die
Rechte der Bürger entsprechend eingeschränkt werden.
Auf dem Gebiet der Strafverfolgung haben sich bisher die Ermittlungen auf
den Beschuldigten konzentriert und die prozessuale Aufklärung geschah
im wesentlichen offen.
Jetzt setzt man auf Heimlichkeit und interessiert sich für Unbeteiligte.
Ermittlungsverfahren ist nicht mehr Aufklärung eines konkreten Tatverdachts,
sondern flächendeckende Sammlung personenbezogener Daten. Der Staat
hält sich nicht mehr an die Grenzen der Ausforschung, die
selbstverständlich waren, und er trifft dabei auf breite öffentliche
Zustimmung.
Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung wird auf besonders drastische
Weise versucht, durch die Einführung neuer Übewachungsverfahren
eine Kostenminderung zu erreichen. Die Daten werden einerseits genutzt, durch
Plafondierungen und Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen eine Kostendämpfung
zu erreichen (so etwa bei der Intensivierung der Kontrolle der Ärzte
im Gesundheitsstrukturgesetz) oder eine angeblich mißbräuchliche
Inanspruchnahme von Sozialleistungen aufzudecken (insbesondere durch
regelmäßige Datenabgleiche bei Sozialhilfe und
Arbeitsförderung).
Auf den Datenschutz wirkt sich dabei die Tendenz aus, weg von einer angeblichen
egozentrischen Selbstbestimmung hin zu einer stärker betonten
Gemeinschaftsverantwortung zu kommen. Individualrechte werden vielfach ohne
zwingende Gründe zugunsten staatlicher Eingriffsrechte
zurückgedrängt. Mehr und mehr begegnet der Staat dem einzelnen
Bürger mit Mißtrauen und schafft ein immer dichteres Kontrollnetz.
Es ist fraglich, ob dieses Menschenbild dem des Grundgesetzes entspricht.
Hinzu kommt, daß das reine Verwaltungsinteresse, das Bestreben nach
größtmöglicher Perfektion und Einzelfallgerechtigkeit ein
immer größeres Gewicht erhält. Je mehr Perfektion die Verwaltung
angestrebt, desto mehr Daten muß sie erheben, nutzen, abgleichen oder
sonst verarbeiten. Das Gespür für den "Mut zur Lücke" geht
verloren. Kennzeichend für den demokratischen Rechtsstaat ist aber nicht
seine Allwissenheit, sondern die bewußte Beschränkung seiner
Informationsherrschaft.
Besonders gern wird zur Intensivierung der Kontrolle die Wunderwaffe des
Datenabgleichs genutzt. Perfektion und Korrektheit lassen sich dadurch auf
bequeme Weise erreichen: Auf Knopfdruck lassen sich die verschiedensten
Kontrollmechanismen in Gang bringen, ohne daß sich die Behörde
unmittelbar mit dem einzelnen Bürger auseinandersetzen muß.
Mühelos ist die Prüfung von Zehntausenden in kürzester Frist
möglich.
Wird der Weg zu intensiverer Kontrolle und Überwachung, insbesondere
zum Abgleich der verschiedensten Datenbestände, ungebremst fortgesetzt,
könnte sich aus einer Unsumme von automatisierten Dateien und aus einem
Netz von Datenabgleichen, das schließlich alle Bürger und fast
alle ihre Lebensbereich erfaßt, der "gläserne Bürger" ergeben.
Selbst wenn jeder einzelne Abgleich und Kontrollvorgang für sich eine
gewisse Berechtigung haben sollte, trägt er bei zu einem umfassenden
Netz von Überwachungs- und Überprüfungsmöglichkeiten.
Jeder Bürger wird dabei potentiell zum Verdächtigen, dessen korrektes
Verhalten ist zu überprüfen gilt. Damit ändert sich das
Verhältnis des Bürgers zum Staat auf grundlegende Weise.
Wie dem begegnen?
Zwar ist die verfassungsrechtliche Dimension des Datenschutzes unbestritten.
Gleichwohl fehlt der informationellen Selbstbestimmung das Fundament im
Grundgesetz. Eine grundlegende Verbesserung könnte erreicht werden,
wenn 10 Jahre nach der Anerkennung des Grundrechts auf Datenschutz durch
das Bundesverfassungsgericht dieses Grundrecht auch ausdrücklich in
das Grundgesetz aufgenommen würde. Daß die erforderliche Mehrheit
in Bundesrat und Bundestag hierfür bisher nicht erreicht werden konnte,
bedauert die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder ausdrücklich.
Die verfassungsrechtliche Verbesserung bei einer derartigen
Grundgesetzänderung bestünde auch darin, daß bei jedem
Gesetzentwurf von Anfang an die Berücksichtigung des Grundrechts auf
Datenschutz zu prüfen wäre. Eine Einschränkung des Grundrechts
müßte künftig durch ausdrückliche Erwähnung im
Gesetz unter Angabe des neuen Grundgesetzartikels kenntlich gemacht werden
(sog. Zitiergebot nach Art. 19 GG); anderenfalls wäre das Gesetz nichtig.
Dies wäre ein erheblicher "Mehrwert" zu Gunsten der Bürger.
Für die weitere Ausgestaltung des einfachen Datenschutzrechts sollten
folgende Erwägungen zugrunde gelegt werden:
In der Informationsgesellschaft ist der effektive Schutz der personenbezogenen
Daten die Voraussetzung für eine breite Teilnahme der Bürger an
der Gesellschaft. Nur wenn der Bürger sicher sein kann, daß seine
dem Staat und der Wirtschaft überlassenen Daten soweit wie möglich
geschützt werden, nimmt er aktiv am Gemeinschaftsleben teil. Der
Bürger kann seine Freiheit zur Kommunikation (und umgekehrt ebenso seine
Entscheidung zur Freiheit von Kommunikation) nur verwirklichen, wenn der
Staat seine Schutzpflichten für die Daten der Bürger ernst nimmt.
Die wichtigste Folge dieser Einsicht ist, daß Datenschutzvorschriften
nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch materielle Freiheitsräume
garantieren müssen. Dies bedeutet, daß bei der Frage, ob der Einzelne
einer Auskunftspflicht unterworfen werden soll, ob seine Daten außer
für den Erhebungszweck auch für andere Zwecke freigegeben werden
sollen, wie lange belastende Daten aufbewahrt werden dürfen und welche
Datenverarbeitungsvorgänge dem Betroffenen verborgen bleiben dürfen,
jeweils strenge Maßstäbe angelegt werden müssen.
Hierfür ist eine neue Grenzziehung für Eingriffe in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung erforderlich: Der Begriff des
"überwiegenden Allgemeininteresses", der alleine einen Eingriff in die
informationelle Selbstbestimmung rechtfertigt, ist inhaltlich mehr
aufzufüllen und mehr als bisher im Lichte der informationellen
Selbstbestimmung zu interpretieren. In konkreten Konfliktfällen darf
die Freiheitsicherung der Bürger gegenüber effektiver
Staatstätigkeit nicht ins Hintertreffen geraten.
Für das Bundesverfassungsgericht ist die Beteiligung unabhängiger
Datenschutzbeauftragter wegen der für den Bürger bestehenden
Undurchsichtigkeit der Speicherung und Verwendung von Daten im Interesse
eines vorgezogenen Rechtsschutzes von erheblicher Bedeutung für einen
effektiven Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Dies gilt
ins- besondere in den Bereichen, in denen eine Auskunfts- oder Einsichtsanspruch
des Bürgers nicht oder nur unvollständig besteht. Daraus folgt,
daß Rolle und Kompetenzen der Datenschutzbeauftragten auch im Hinblick
auf effektivere Eingriffsmöglichkeiten gestärkt werden müssen.
Versuche, die Kontrollmöglichkeiten der Datenschutzbeauftragten zu
beschränken, muß schärfstens widersprochen werden.
Datenschutzrechtliche Verstöße gehen meist aus Unkenntnis und
mangelndem Problembewußtsein seitens der öffentlichen Stellen
zurück. Aus- und Fortbildung in Fragen des Datenschutzes muß daher
erheblich mehr Gewicht beigemessen werden als bisher. Insbesondere sind
Bemühungen zu fördern, den Datenschutz in den einschlägigen
Ausbildungsplänen (Informatikunterricht in der Schule, Rechts- und
Informatikstudium in den Hochschulen) sowie den Fortbildungsveranstaltungen
an der öffentlichen Verwaltung als obligatorisches Fach zu verankern.
Die Datenverarbeitungstechniken haben sich gegenüber der Zeit des
Volkszählungsurteils geradzu revolutionär verändert. Der Umsetzung
des Volkszählungsurteils durch die Schaffung der eigenen Rechtsgrundlagen
muß daher verstärkt die Entwicklung geeigneter technisch
organisatorischer Maßnahmen zur Seite gestellt werden. Der Blick des
Datenschutzes muß sich stärker auf die Technik des
Verarbeitunsprozesses selbst richten. Dies bedeutet nicht nur die Entwicklung
spezifischer Datenschutzvorkehrungen für neue informationstechnische
Entwicklungen (Miniaturisierung der Rechner, Chipkarten, neue
Vernetzungstechniken), sondern auch neuer komplexer Anwendungsformen (z.B.
im Bereich des Zahlungsverkehrs, der Straßenbenutzung oder der
Textverarbeitung).
Die Europäische Union wird zunehmend zur Informations- und
Datengemeinschaft. Dies macht einen europäischen Datenschutz erforderlich.
Die Konferenz teilt mit den europäischen Nachbarn nicht nur die
Überzeugung, daß der Datenschutz in Europa harmonisiert werden
muß, sondern auch daß die Rechte der Gemeinschaftsbürger
auf einem hohen Niveau gesichert werden müssen, damit die Öffnung
der Grenzen für Güter, Kapital und Dienstleistungen - und damit
auch für persönliche Daten - nicht zu Nachteilen für den einzelnen
führt.
Innerhalb von Deutschland,wirft die Integration der neuen und der alten
Bundesländer nach wie vor Probleme auf. Nach wie vor besteht die Neigung,
über Bürger aus den neuen Bundesländern erheblich mehr Daten
zu erheben und unter erleichterten Bedingungen Daten zu verarbeiten als dies
in den alten Ländern der Fall wäre.
Die Notwendigkeit für Übergangsregelungen in den neuen
Bundesländern wird nicht bestritten; die Eingriffe in
Persönlichkeitsrechte müssen aber dennoch
verhältnismäßig, erforderlich und darüber hinaus
zeitbefristet sein. Aus dem Einigungsprozeß herrührende
Sonderregelungen und Verwaltungsvorschriften sind nicht festzuschreiben,
sondern auch im Sinne der informationellen Selbstbestimmung schrittweise
abzubauen.
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