|
Wir leben laengst im Cyberspace
Weshalb Kultur immer eine kuenstlich generierte Welt ist, und kommende Techniken nur graduelle Neuerungen bringen. You are not wrong, who deem That my days have been a dream; (...) In a vision, or in none, Is it therefore the less g o n e ? A l l that we see or seem Is but a dream within a dream. Edgar Allan Poe, A DREAM WITHIN A DREAM In allen Bereichen unseres Lebens scheinen sich deutliche Veraenderungen zu vollziehen. In meinem Text 'Leben in Turbulenz' habe ich ueber Trends berichtet, die aus dem Bereich der Computer- technologie in unsere Kultur draengen und einschneidende Umwaelzun- gen eingeleitet haben oder moeglicherweise einleiten werden. Hier nun moechte ich meiner Einschaetzung Ausdruck geben, dasz diese un- leugbar beschleunigt stattfindenden Umbrueche unser Verstaendnis von Kultur nicht werden mitreiszen koennen. Begreifen wir etwa die Aussicht auf die Realisierung und Verbreitung von Cyberspace als die Verabschiedung des Menschen aus der Realitaet, so zeigt dies, dasz wir das Wesen menschlicher Kultur miszverstanden haben. Was ich hier vertreten will ist die Ueberzeugung, dasz der Mensch sich wohl bereits mit der Nutzbarmachung des Feuers in einen kuenstlich geschaffenen Raum begeben hat. [Anm. der Red. - der erwaehnte Text wurde im Zerberusnetz veroeffentlicht, nicht in einer frueheren Chalisti] Kunstwelten Der Mensch war zunaechst Jaeger und Sammler, dann ein dem Vieh folgender Nomade, dann seszhafter Ackerbauer, Handwerker, Haendler, Industriearbeiter und schlieszlich Software-Anwender. All diese Schritte sind wohl als Revolutionen bezeichnet worden; und sie sind auf das Finden und Erfinden von Fertigkeiten und Techniken zurueckzufuehren. Dabei hat die Umwelt des Menschen sich in dem Sinne veraendert, als - wenn man so will - der Grad ihrer Kuenst- lichkeit immer weiter zugenommen hat. Somit kann die zukuenftig durchaus denkbare Verbreitung von Cyberspace keinesfalls als Ver- abschiedung von der Realitaet gesehen werden: vielmehr wird sich die Realitaet (einmal mehr) veraendern. In diesem Zusammenhang wer- den auch andere Technologien (etwa die Genmanipulation) eine auszerordentliche Rolle spielen. Warum aber erzeugt schon die Nutzbarmachung des Feuers durch den Menschen eine Art Cyberspace? Die Antwort erwaechst aus fol- gender Ueberlegung. Begeben wir uns um rund 400 000 Jahre zurueck. Den lebenden Menschen ist es gleichgueltig, ob wir sie noch als Homo erectus oder bereits als als Homo sapiens bezeichnen. Sie muessen in einer rauhen Umgebung ueberleben. Staendig drohen Ueber- faelle durch Raubtiere, die es besonders auf Saeuglinge, Kinder und Schwache abgesehen haben. Die Faehigkeit, ein Feuer zu entzuenden, oder es zumindest am Brennen zu halten, ermoeglicht einen Lager- platz, der einen gewissen Sicherheitsradius schafft. (Der Leser moege sich diesen Platz als ein Feld auf einer Landkarte vorstel- len, dessen Farbintensitaet zum Rand hin abnimmt.) In diesem Bereich sind die Bedingungen des uebrigen Lebensraums aufgehoben. Eine Kunstwelt ist generiert, die fuer Raubtiere schlicht keine Schnittstelle hat! Als griffiges Beispiel kann man eine fiktive Geschichte aus dem Alaska der Jahrhundertwende lesen: den ersten Teil von Jack Londons 'White Fang' (Wolfsblut). Der jetzt noch immer feuer-unglaeubige Cyber-Freak moege sich vor Augen fuehren, dasz die Bilder hinter seiner Datenbrille der Hard- und Software beduerfen, also nicht 'von ungefaehr' kommen. Feuer braucht Holz, Cyberspace braucht MIPS. Die Lichterscheinungen des Feuers aber (wir brauchen uns hier nicht ueber Wellen oder Korpuskel strei- ten) - erscheinen sie uns nicht instinktiv als unstofflich, was doch wohl eigentlich und geradezu das Wesen des Cyberspace ist. Mit einem weiteren Beispiel moechte ich die kostbare Zeit meiner Leser stehlen. Die zweite ueberragende Entdeckung nach dem Feuer war die Erfindung der Schrift. Betreten wir in unserer Vor- stellung also ein Wohnzimmer, dessen Waende gefuellte Buecherregale sind. Hier befindet sich Material fuer ein ganzes Leben geistiger Beschaeftigung. Der Leser schirmt seine Sinne gegen die Umwelt ab (klingt wie eine Cyberspace-Beschreibung), und es tun sich Welten auf, die gar nicht da sind. Das wird erst richtig deutlich, wenn uns die Vorstellung gelingt, wir koennten nicht lesen. Dann ist da nur noch ein Brennstofflager, aus dem bestenfalls noch ein Oster- feuer zu machen waere. Wie wir Heute leben Im Gegensatz zum groeszeren Teil der Menschheit genieszen wir die Gnade der wissenschaftlich-technisch-industriellen Zivilisa- tion. Egal welchen Teil man aus ihr zur Betrachtung herausgreift, er ist kuenstlich erzeugt, ein Produkt des menschlichen Geistes. Das reicht von der Gehwegplatte bis zum Stealth-Bomber. Wie sehr diese Verkuenstlichung unsere Lebensweisen und -bedingungen seit einigen Jahrzehnten veraendert, ja geradezu verzerrt hat, moechte ich an vier wesentlichen Techniken erlaeutern: Telefon, Automobil, Fernsehen. Das Telefon ist bereits seit vielen Generationen im Einsatz. Es verzerrt den Schallraum ungemein. Es entsteht ein Schlauch zwischen zwei beliebig weit entfernten Orten. Wer macht sich noch klar, wie weit und schnell wir damit greifen? Was macht uns so sicher, dasz die Laute in der Muschel von den Menschen kommen, die wir uns vorstellen? In diesem akustisch-kybernetischen Raum be- gegnen wir nur einem Teil des Menschen - auf den Rest koennen wir offensichtlich verzichten. Es laeszt sich also sagen, dasz wir den Menschen nicht mehr als Zweck, sondern lediglich noch als Mittel der Kommunikation betrachten. Nun wird der scharfsinnige Leser einwenden (Feministinnen muessen sich an derartigen Textstellen analoge Redundanzen selbst dazudenken), dasz er das Telefon doch nur dazu benutzt, sich mit der g a n z e n Freundin zu verabre- den. Das mag hier und da tatsaechlich der Fall sein, doch muessen wir klar sehen, dasz die meisten Telefongespraeche in unserem institutionalisierten Leben 'geschaeftlicher' Natur sind. Men- schen, die sich noch niemals gesehen haben und sich niemals sehen werden, koennen in ihrem Berufsleben miteinander Probleme loesen, die unser aller Leben sichern. Der Mensch bedarf des 'Zusammenle- bens' also ueberhaupt nicht mehr, die Telekommunikation reicht voellig aus. Sterben fuer sinnlose Kommunikation? Bis auf einen Fernsehmoderator, der von einem Alptraum sprach, fanden es vor wenigen Wochen auf der CeBIT alle so toll, dasz in etwa zehn Jahren jedes Automobil serienmaeszig mit einem Autotelefon ausgeruestet sein wird. Jedem ist eigentlich klar, dasz noch mehr Radfahrer und Fuszgaenger sterben muessen, wenn es nicht mehr nur die Schickimicki-Studentinnen mit VW-Golf sind, die nicht auf den Verkehr vor ihrer Windschutzscheibe achten, sondern auf den Verkehr durch ihr Telefon - ihr Freund im Austin-Mini- Mayfair heizt gerade am anderen Ende der Stadt... Oder steckt er im Stau? (Ja, auch Computer-Freaks und Stubengelehrte werfen mal einen Blick in 'Cosmopolitan', die wahre Frauenzeitschrift, um die Geisteswelt gewisser Menschen zu erforschen.) Mit der letzten Variante des Telefons sind wir auch schon bei meinem Lieblingsthema (ein gesonderter Artikel ist in Vorbe- reitung): das Automobil. Auch diese Technologie ist bereits seit Generationen im Einsatz und hat gewaltige Veraenderungen mit sich gebracht. Es verhaelt sich wie mit dem Feuer oder dem Telefon. Die vorher gegebenen Bedingungen sind auf Teilen der Weltkarte - dort wo es befestigte Straszen, Autos und Treibstoff gibt - voellig ver- aendert. Auch hier ist ein kuenstlich generierter Raum geschaffen, der Verzerrungen mit sich bringt. Anfangs brachte das Auto Frei- heit. Jeder, der ein Auto hatte, konnte nun zwar noch nicht sein, WAS er wollte, wie bei Timothy Learys LSD-Trips, zumindest aber konnte er sein, WO er wollte. In dem Masze aber, da das Auto zur alltaeglichen Selbstverstaendlichkeit wurde, und jeder das Fahren in sein Leben einbaute, entstanden die Zwaenge. Die Komponenten des Lebenszusammenhangs wie Wohnung, Arbeitsplatz, Verwandschaft, Freunde, Verein usw. liegen heute raeumlich bereits an den Grenzen der Leistungsfaehigkeit des Autos zumal der Verkehrsflusz immer haeufiger zum Stau wird. Wenn das Verkehrsmittel also versagt, funktioniert die Tagesplanung auf einmal nicht mehr, und man ist ploetzlich allein, weil man die anderen kaum noch erreichen kann, und man merkt endlich: wir leben laengst nicht mehr in der 'wirklichen' Welt, sondern im Automobil-Cyberspace! Traum vom Ausbruch aus dem verbauten Leben Wenn einem die Zeit nicht mehr reicht, die Freunde zu sehen, weil das Ueberbruecken des Raums zwar nicht unmoeglich, so aber doch mit Stresz verbunden ist, setzt man sich doch lieber vor den Fern- seher. Das es sich hier nun endgueltig um eine unwirkliche Welt handelt, brauche ich nicht mehr zu erlaeutern. Und da heute jeder Fernsehzuschauer allein vor seinem Geraet sitzt, die Fernbedienung nicht mehr aus der Hand legt und unzaehlige Programme zur Verfue- gung hat, ist er nichtmal der vielgescholtene passive Konsument, denn er sucht sich ja seinen Weg durch die Programme selbst. Was er nicht sehen will, braucht er nicht zu sehen, denn er findet auf einem anderen Kanal bestimmt etwas Reizenderes. Wenn ich mich mit meinen Mitmenschen ueber Dinge unterhalte, die ich im Fernse- hen gesehen habe, erhalte ich immer haeufiger zur Antwort: "Das habe ich nicht ganz gesehen", oder: "Da hatte ich gerade auf ein anderes Programm geschaltet". Aber das sogenannte 'Zapping' (das Folgen des eigenen Im- pulses also), ist nicht die letzte Entwicklung. Man musz nicht von dem amerikanischen Nachrichtensender CNN sprechen, wenn man 'Echtzeit' meint. Unsere 'wirkliche' Nachbarschaft etwa nehmen wir gar nicht mehr wahr. Ich selbst kenne durchaus nicht alle Mitbewohner meines Hauses, manche habe ich wohl noch nie gesehen. Aber ich koennte sie kennen, wenn ich regelmaeszig die 'Linden- strasze' einschalten wuerde. Meistens ist mir das Ansehen dieser erfolgreichen Serie unertraeglich, denn ich halte die laecherlichen Probleme dieser Menschen einfach nicht aus (Muecke-Elefanten- Effekt). Wenige Stunden vor Ausbruch des Golf-Krieges (Wessen Fernseher lief nicht rund um die Uhr?) sah ich zufaellig, wie eine Lindenstraszen-Nachbarin von den Ereignissen am Golf voellig mitge- nommen war (und keine Kinder haben wollte in dieser Welt oder sowas in der Richtung). Das haute mich als inzwischen abgebruehten Fern-Seher doch fast aus dem Sessel: Das ist ja alles echt. Wann haben die das denn gedreht? Die drehen gar nicht mehr, das ist 'live'! Und ich war noch gewohnt, dasz der 'Tatort' im Winter spielt, wenn drauszen Sommer ist. Die drei Beispiele Telefon, Automobil und Fernsehen zeigen, wie sehr wir unser Leben verbaut haben. Erst reiszen wir es mit komplizierter Technologie auseinander, um es dann mit noch aus- gefeilterer Technologie wieder zusammenzufuegen. Was dabei ent- steht, ist ein Flickenteppich von Wahrnehmungen, der uns (ich sage mal: ausgeglichene) Sinnlichkeit kaum noch erfahren laeszt. Diejenigen, die gegenwaertig an Cyberspace-Systemen aus Datenbril- len, -handschuhen und -anzuegen basteln, scheinen mir von der Sehnsucht nach einer harmonischen, riszlosen Welt getrieben zu sein. Zwar gibt der zottelige Jaron Lanier zu, dasz die Rueckkehr aus seinem Cyberspace ihm die Groszartigkeit der 'wirklichen' Welt erst wirklich bewuszt macht, doch ist das eher so zu verstehen, dasz eben noch viel Arbeit fuer einen besseren Cyberspace geleistet werden musz. Noch ist Marilyn (oder wen auch immer man sich herbeitraeumt) eben ein mehr oder weniger verkrampftes Drahtkantenmodell. Und vielleicht noch bevor sich das aendern kann, wird sich der Cyber- space beleben. Die am Anfang von einem selbst bestimmbare und deshalb freie Baukastenwelt, die uns Begegnungen und Bekannt- schaften nach Wunsch ermoeglicht: sie wird die Beschraenkungen und Zwaenge unseres gemeinschaftlich orientierten und deshalb notwen- digerweise organisierten Lebens in sich aufsaugen. Und somit wird es sein, wie es immer war. Wir begegnen nur solchen Menschen, die uns die Lebenszeit stehlen, weil sie uns nicht ernst nehmen: Lehrer, Professoren, Chefs und die Schar der sonstigen Bekannten. Dazu kommen die (Frauen), welche unsere Liebe verbrauchen und danach ploetzlich entschwinden. Dasz wir es im Cyberspace zum Teil mit Kunstwesen zu tun haben werden, mag fuer viele ein erschreckender Gedanke sein. Aber diejenigen, die Heute davor warnen, werden in der zukuenftigen Praxis des Cyberspace keinen Unterschied zwischen hineingezogenen und kuenstlichen Existenzen bemerken! (Ich denke da auch an 'Blade Runner'.) Und selbst ein John Searle musz funktionale Kriterien bemuehen, um Sinn von Unsinn, Nicht-KI von KI zu unterscheiden. Das ist wohl ein Beleg, dasz es keinen Sinn machen wird, zwischen 'echt' und 'unecht' zu unterscheiden. Denn wie Edgar Allan Poe richtig sagt: Es ist gleichgueltig, ob das Erlebte eine Erschei- nung war oder nicht. Wichtig ist allein die Erfuellung, die man darin gefunden hat. Zum Funktionalismus sind wir eh verurteilt. Kuenstlichkeit haengt nicht vom Cyberspace ab! Trotz aller Technik und der damit verbundenen Veraenderungen sind wir Menschen geblieben. Und an dem Punkte, wo ich kuerzlich eine Studentin sagen hoerte, sie werde immer zwischen einem Com- puter und einem Menschen unterscheiden koennen, naemlich anhand der Frage, ob sie mit ihm schlafen koenne oder nicht - genau da fuehrt sich das Menschsein selber vor und geraet vollends zur Laecherlich- keit! Nicht nur, dasz sie zur Verifikation der gesamten Menschheit nach dieser Methode bisexuell sein mueszte. Vielmehr waeren Schlusz- folgerungen aus einem solchen Test reine Induktion, denn ihr (hier als angenehm unterstelltes) Test-Erlebnis waere schon morgen vielleicht nicht wiederholbar, da jener Mann seine Meinung von ihr ueber Nacht geaendert hat. Doch das wuerde diese Frau gar nicht schocken, denn sie wuerde sich von neuem auf die Suche machen, um sich bei einem anderen von dessen Menschsein zu ueberzeugen. Dieses weit verbreitete und gnadenlos oberflaechliche Men- schenbild der besagten Studentin fuehrt zur hier vertretenen These zurueck. Nicht die Computertechnologie wird uns den kuenstlichen Menschen bescheren, sondern es gibt viele Menschen, die sich auf- grund ihrer Flachheit und Bindungsunfaehigkeit selbst zu Kunst- Erscheinungen machen. Diese Eigenschaft entsteht aber sicher nicht in Folge technologischer Veraenderungen. Es ist eher wahr- scheinlich, dasz die Intensitaet menschlicher Bindung in staendigem Wechsel begriffen ist. Es verhaelt sich vielleicht wie mit den im Wirtschaftsgeschehen zu beobachtenden Konjunkturverlaeufen. Es gibt Perioden, in denen die Menschen aufeinander zugehen und andere, in denen sie es weniger tun. Allerdings sind solche Ver- mutungen mit Vorsicht zu genieszen. Glaubt man den Medien, so leben wir in einer Zeit zunehmender Vereinzelung und Isolation des Menschen. Nimmt man aber etwa den vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen 'Datenreport' zur Hand, so zeigen die Erhebungen, dasz nichts dergleichen zu beobachten ist. Wenn wir also nichtmal die menschliche Befindlichkeit feststellen koennen, so ist es reine Ausweichtaktik, dann der Technik die Schuld zu geben. Das wird leider zu haeufig unwidersprochen getan. Technik schafft zwar, wie oben gezeigt wurde, kuenstliche Welten, die unsere Lebensumstaende bestimmen. Das darf aber nicht davon ablenken, dasz wir selbst es sind, die unsere Umgangsweise mit den Mitmenschen bestimmen und somit unser Menschenbild. In zehn oder fuenfzehn Jahren werden die Medien konstatieren, dasz die Menschen sich zu sehr auf die Pelle gerueckt sind, kein Individualismus mehr moeglich ist, und somit psychische Schaeden aufgrund mangelnder Selbstverwirklichung entstehen. Oberflaechlichkeit ist also nicht technikinduziert. Einstieg in die Wirklichkeit Nun haette dieser unsaegliche Text hier in seinen letzten Ab- schnitt muenden koennen, wenn da nicht noch ein Gedanke bezueglich der 'Wirklichkeit' aufgetaucht waere. Vielleicht wird es so kommen, dasz uns erst die neuartige Technologie des Cyberspace die 'eigentliche' Wirklichkeit eroeffnen wird. Wir koennten uns die Datenbrille ueberziehen und beim Durchwandern der Landschaft Radioaktivitaet, Dioxin und Schwermetalle direkt wahrnehmen, weil sie etwa als gruener Schleim oder gelber Staub dargestellt sein wuerden. Geringe Konzentrationen koennten beliebig verstaerkt wer- den. Wir haetten die uns bestimmende Realitaet wiedergewonnen. Wer jedoch glaubt, diese Technik wuerde dazu fuehren, dasz ein Verlangen entstuende, etwas gegen die Vergiftung zu tun, der irrt sich allerdings. Beiszender Gestank und bruellender Laerm der Auto- mobile sind auch ohne Cyber-Hilfsmittel wahrnehmbar, aber es geschieht nichts. Das Klima veraendert sich, Waelder sterben weiter ab. Aber wir wollen auf das Verprassen von Energie eben nicht verzichten. (Was fuer eine Leistungsaufnahme haben mein Mega und sein SM124 eigentlich? Der Abluftstrom hat immerhin eine Tempera- tur von 33 Grad Celsius, was allerdings zur Raumheizung beitraegt und eine Art Waermerueckgewinnung darstellt. (Und so hat jeder eine Rechtfertigung fuer sein naerrisches Spielzeug. Das Selbstbeluegen reicht von der Hausfrau bis zum Reaktor-Toepfer (Letzterer wird in Schizophrenie enden.). )) Wer also Energie verschleudern will, weil Windenergieanlagen die Zugvoegel irritieren, und weil intel- ligente Energieausnutzung und -einsparung zuviel Fantasie erfor- dern, der musz eben mit kleinen Seiteneffekten wie Tschernobyl rechnen. Die Zahl der Menschen, die dadurch zu Siechtum und Traenen verurteilt sind, reicht wahrscheinlich in die Millionen. Vielleicht ist man angesichts dieses Elends auf dem Weg vom Fernseher zum Kuehlschrank ploetzlich in Traenen ausgebrochen, doch Minuten spaeter lebt man weiter wie immer. Das ist eben mensch- lich; so sind wir eben. Ich nehme mich da nicht aus. Verbauter Geist? Feuer als Cyberspace? Menschen, die auch ohne technische Einfluesse als Kunstwesen erscheinen? Erschlieszung der Wirklich- keit durch neue Techniken? Und alle diese Gedanken geaeuszert auf der Basis einer Technik der virtuellen Realitaet, die eigentlich erst in mehr oder weniger miszratenen 'Demos' existiert, die ich selbst nur aus Presse und Fernsehen kenne. Wenn dieser Text als nicht schluessig empfunden wird, so ist dieser Eindruck nicht unrichtig. Vielleicht liegt das in eben dieser leichtfertigen Verquickung von gegenwaertigen Beobachtungen mit Zukunftsspekula- tion. Und deshalb mag jemand einwenden, meine Ausfuehrungen seien gefaehrlich, weil ich Funktionsweisen zukuenftiger Technologie verwende, um kulturelle, historische und soziale Phaenomene zu beschreiben. Damit tue ich, was Joseph Weizenbaum bezogen auf das menschliche Denken als ein Verstehen unter Zuhilfenahme computer- bezogener Begriffe kritisiert. Ich sehe das Problem. Doch wahr- scheinlich fordert unsere Zeit solche Paradigmen. Vielleicht sind die Problemfelder, die ich behandelt habe, nur auf diese Weise brauchbar zu verdeutlichen. Zwar sehe ich der technischen Zukunft mit sehr gemischten Gefuehlen entgegen, doch steht zu vermuten, dasz viele Moeglichkei- ten, ueber die wir spekulieren, garnicht sobald verfuegbar sein werden. Zusaetzlich stellt sich die Frage ihrer Durchsetzung. Da sich Technik graduell entwickelt (qualitative Spruenge scheinen mir nachtraeglich hineininterpretiert zu sein), entstehen Struktu- ren langsam, und deshalb umso schleichender. Und was noch wichtiger ist: Jeder von uns traegt mit seiner eigenen Fantasie zu dem langsamen Prozesz bei. Kauft sich jemand ein Modem und laeszt seinen Computer also in Verbindung mit Mailboxen treten, so ist das ein witziges Hobby, dasz mindestens so harmlos sein mag wie ein Kleingartenverein. Doch traegt dieses Tun voellig unbeabsich- tigt zur Schaffung von Akzeptanz fuer eine allgemeine Vernetzung bei, die offensichtliche, doch haeufig verdraengte Gefahren birgt. Was wir also im Auge behalten muessen ist das, was sich in unseren Koepfen tut, und was sich daraus im Alltag ergibt und nicht in ferner Zukunft. Wie technische Entwicklungen so gestaltet werden koennten, dasz ungewollte und unangenehme Verbauungen unseres Lebens ausgeschlossen werden koennten - ich weisz es nicht. Aber vielleicht liegt unsere Fahrlaessigkeit darin, dasz wir das 'Nachdenken' den emotionslosen und/oder unsensiblen Klug- scheiszern ueberlassen; diese besitzen die vorteilhafte Faehigkeit, auf jede Frage eine komplette Echtzeit-Antwort zu haben. Wenn sie dazu noch genug Eitelkeit besitzen, werden sie Politiker (Um ein Horror-Spektrum prominenter Widerlichkeit zu spannen: Ruehe, Scharping, Moellemann, Ditfurth, Gysi). Aber nur solche Figuren sind fuehrungskompatibel. Denn der reflektierende, vorsichtige und somit vielleicht weisere Mensch wird Grosz-Verantwortung meiden. Wir werden auch in Zukunft maches Unangenehme zu erdulden haben. Trotz aller Technik, auch wenn es denn Cyberspace sein wird, werden wir immer Affen bleiben. Getraeumt haben wir immer. Und wenn die Technik das verstaerkt, sei es drum... Entscheidend ist, was uns die Erscheinungen geben. Wenn diese uns noch zur Zufrie- denheit gereichen, dann ist es gut genug, oder? von Frank Moeller Hamburg, Mai 1991 <F.MOELLER@LINK-HH.ZER> ------------------------------------------------------------------------------ |
[Contrib]
[Chalisti]
[14]
Wir leben laengst im Cyberspace